Susanne Goga: Der Teufel von Tempelhof. Kriminalroman

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Vandam
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Susanne Goga: Der Teufel von Tempelhof. Kriminalroman

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Susanne Goga: Der Teufel von Tempelhof. Kriminalroman. Ein Fall für Leo Wechsler, München 2024, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3 423-22047-7, Taschenbuch, 328 Seiten, Format: 12,8 x 2,6 x 19,9 cm, Buch: EUR 13,00 (D), EUR 13,40 (A), Kindle: EUR 9,99, auch als Hörbuch lieferbar.

„Ferdinand Clasen, ein Arzt aus Tempelhof, wurde am Platz Q erschlagen aufgefunden. […] Ein Heimatforscher hat erzählt, dass sich dort, wo man die Leiche gefunden hat, nach einer germanischen Sage das Tor zur Unterwelt befindet. Und in der Villa, in der Clasen gewohnt hat, spukt es angeblich. Du kannst dir vorstellen, was die Presse für ein Garn daraus spinnt.“ (Seite 117)

Ein toter Arzt am Tümpel

Berlin 1929: Heimatforscher Ludwig Bönisch hat die seltsame Angewohnheit, jeweils bei Vollmond einen Spaziergang zu dem sagenumwobenen Tümpel „Blanke Hölle“ zu unternehmen. Unheimlich ist es dort schon, auch wenn er weiß, dass das vorchristliche Heiligtum der Totengöttin Hel keine Menschenopfer (mehr) fordert. Dass er an einem Februarabend dort tatsächlich eine Leiche findet, ist für ihn ein Schock. Und dann gerät er auch noch unter Mordverdacht! Niemand glaubt ihm, dass sich zwei ältere Herren rein zufällig im Dunkeln an diesem entlegenen Ort aufgehalten haben.

Es dauert eine Weile, bis Oberkommissar Leo Wechsler und seine Kollegen von der Inspektion A (Mordkommission) herausfinden, wer der gut gekleidete Senior ist, der da erschlagen am Ufer liegt: Dr. Ferdinand Clasen, ein Internist – und eine schillernde Figur. Gesellschaftlich wollte er immer hoch hinaus und wenn die Kasse stimmte, hat er auch vor dubiosen Behandlungsmethoden nicht zurückgeschreckt. Oder hat er tatsächlich geglaubt, dass er zum Wohl seiner Patient:innen handelt?

Eine Augenzeugin taucht unter

Neben Heimatforscher Bönisch und Dr. Clasen war in jener Vollmondnacht noch eine weitere Person am Tatort: die dreizehnjährige Erika Sperber. Doch sie kann nicht zur Polizei gehen und erzählen, was sie gesehen hat, weil sie aus nachvollziehbaren Gründen aus einem kirchlichen Mädchenheim weggelaufen ist. Erika findet Unterschlupf bei einem hilfsbereiten Ehepaar und verschwindet erst einmal von der Bildfläche.

Die Polizei tut sich schwer mit den Ermittlungen. Wer mit Dr. Clasen zu tun hatte, weiß entweder nicht viel über ihn und seine Arbeit oder will nicht reden. Clasens Methoden waren nicht nur gefährlich und umstritten, sondern berühren auch heikle Themen. Frau Dr. Martha Schott, eine Freundin der Familie Wechsler, tut sich erkennbar schwer, Leo zu erklären, worauf sich der Arzt spezialisiert hatte. Und wenn einer Ärztin schon die Worte fehlen …!

Rabiate Behandlungsmethoden

Leo ist von Marthas Ausführungen schockiert. Von derlei Methoden hat er ja noch nie gehört! Wir Leser:innen von heute schon. Nur war [/]mir[//] zumindest unbekannt, dass man derlei Eingriffe auch in Europa vorgenommen hat, und das noch im 20. Jahrhundert! Wir haben also überhaupt keinen Grund, mit dem Finger auf angeblich rückständige Gegenden in Afrika oder Indonesien zu zeigen. Diese Versuche, eigenwillige Mädchen und Frauen mit rabiaten Methoden gefügig zu machen, gab’s auch bei uns. Und es sollte sie, verflixt nochmal, [/]nirgendwo[//] geben!

Jetzt ist Leo klar, warum niemand reden will. Wenn er wenigstens die Unterlagen aus Clasens früherer Arbeit in der Privatklinik Waldblick hätte! Vielleicht fände sich da ein Anhaltspunkt. Behandlungsfehler, unzufriedene Patienten, Todesfälle, aufgebrachte Angehörige … was auch immer. Aber die Klinik wurde vor Jahren geschlossen und es scheint niemand mehr am Leben zu sein, der über Informationen oder gar Patientendaten verfügen würde.

Ein mitfühlender Kommissar

Es ist frustrierend: Was Leo und seine Leute auch unternehmen, sie landen in einer Sackgasse! Durch einen Zufall gerät Ausreißerin Erika in den Fokus der Polizei. Nicht nur, weil sie zur Tatzeit am Tatort war – es könnte auch eine Verbindung vom Mädchenheim zu Dr. Clasen geben.

Nur ungern überantwortet der mitfühlende Oberkommissar die ausgebüxte Kleine wieder den Nonnen. In diesem kirchlichen Heim geht’s zu wie in einem Gefängnis. Leo, der selbst Kinder in Erikas Alter hat, denkt intensiv darüber nach, ob es für das aufgeweckte Mädchen nicht eine bessere Alternative gäbe als diese lieblos-strenge Institution.

Manchmal nimmt er sich seine Fälle und die Schicksale der darin verstrickten Menschen schon sehr zu Herzen. Aber dafür liebt ihn seine Familie – und die Leser:innen auch. Diese Aussage hier ist typisch für ihn und wir können das gut nachvollziehen:

„Hoffentlich ist dies nicht einer der Fälle, in denen ich den Täter oder die Täterin besser verstehe als das Opfer“, sagte Leo zögernd. (Seite 253)

Keiner macht den Mund auf

Immer wieder stolpern die Ermittler bei ihrer Arbeit über die Familie von Werden, Angehörige des inzwischen verstorbenen Leiters der Privatklinik Waldblick. Die könnten noch am ehesten was über Dr. Clasens Arbeit wissen und hätten vielleicht sogar noch Papiere aus der Zeit. Doch für eine Befragung der Schwägerin des Klinikchefs kommt die Polizei leider zu spät: Dora von Werden erleidet einen tödlichen Unfall. Ihre Tochter, die mondäne Anwaltsgattin Pauline Caspary, lässt die Ermittler elegant auflaufen. Über ihren Pleite-Onkel und dessen Aktivitäten will sie einfach nicht sprechen.

Wenn niemand den Mund aufmacht, ist es fast unmöglich, Motiv und Täter zu finden. Theorien, Vermutungen und Verdachtsmomente allein bringen die Polizei nicht weiter. Aber so leicht gibt die Inspektion A nicht auf …

Historischer Gesellschaftsroman plus Mord

Ich verfolge die Krimi-Reihe um Oberkommissar Leo Wechsler von Anfang an. Das hier ist Band 9. Für mich sind das historische Gesellschaftsromane, in denen „zufällig“ ein Mord passiert. Und während wir die Polizisten bei ihren Ermittlungen begleiten und auch ein bisschen was von ihrem Privatleben mitkriegen, erkennen wir die Zustände und Missstände der damaligen Zeit. Natürlich sehen wir mit dem Wissen von heute auch manches kommen, von dem die Romanfiguren noch nichts ahnen, beziehungsweise, was sie kolossal unterschätzen. So würden wir zum Beispiel dem Polizisten Oskar Neufeld einen ganz anderen Rat geben als Leo Wechsler es tut.

Ich habe das Buch in zwei Tagen durchgelesen und trotzdem manchmal leichte Orientierungsschwierigkeiten gehabt. Nach dem Umblättern kommt plötzlich ein weiterer Name ins Spiel und ich habe mich gefragt, wer das jetzt schon wieder ist. Da wäre ein Personenverzeichnis nicht schlecht gewesen, denn es sind ganz schön viele Leute unterwegs. Wir haben Leo Wechsler und seine Familie, seine Kollegen mit Anhang, Dr. Clasen samt Angestellten, die von-Werden-Sippe nebst Personal und Freunden, Erika Sperber und ihr persönliches Umfeld, dazu noch diverse Zeugen und sonstige Nebenfiguren. Ich habe nicht immer sofort erkannt, dass der Schauplatz und die handelnden Personen gewechselt haben. [/] („Ach so, wir sind jetzt nicht mehr bei von Werdens, sondern mit Kommissar (?) Hasselmann bei den Kollegen vom Rauschgiftdezernat!“) [/I]

Erika in den „Hauptcast“, bitte!

Und auch, wenn mich die „Personalfülle“ regelmäßig an meine Grenzen bringt: Es gibt in fast jedem Leo-Band eine Nebenfigur, die ich gerne in den Folgebänden wiedersehen würde. Könnten wir bitte Erika behalten, ja? Ginge das? Die Eheleute Dohm haben keine Kinder, die könnten sich doch ein bisschen um den Teenager kümmern. Sie scheinen ja gut miteinander klarzukommen. So intelligent, zäh und mutig wie Erika ist und mit ihrer enormen Beobachtungsgabe gäbe sie später bestimmt mal eine gute Polizistin ab. Das ist nur so eine Idee. Den Roman schreibt immer noch die Autorin. 😉

Ich fühlte mich, wie bei den vorigen Bänden auch, spannend unterhalten, habe etwas über unsere Geschichte gelernt und in weitere Abgründe des Homo sapiens geblickt. Wir sind schon eine ziemlich wüste Spezies!

Die Autorin

Susanne Goga lebt als Autorin und Übersetzerin in Mönchengladbach. Sie ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums. Außer ihrer Krimireihe um Leo Wechsler hat sie mehrere historische Romane veröffentlicht und wurde mit verschiedenen literarischen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Goldenen HOMER für ›Mord in Babelsberg‹ und dem Silbernen HOMER für ›Nachts am Askanischen Platz‹.
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