Umfrage: Wie findet ihr mein 1. Kapitel?
Verfasst: Mi 27. Mai 2015, 14:18
Ein freundliches Hallo an alle, die hier lesen.
Nun möchte ich auch gerne Euer Urteil über meinen Roman „Wer an Wunder glaubt“ empfangen und stelle hier einige Ausschnitte aus dem ersten Kapitel ein.
Bitte um ganz ehrliche, schonungslose Kritik, nur so kann man mir weiter helfen. Über den Lob freue ich mich natürlich auch – falls er genau so ehrlich aus dem Innern kommt.
Dieser Roman ist keine reine Biographie - er ist im Roman-Stil geschrieben, also ein Roman nach wahren Begebenheiten - ein Tatsachenroman.
Vielen Dank für Eure Mühe im Voraus.
Wer an Wunder glaubt - kleine Einführung
Arleta verlässt als ein junges Mädchen ihre Heimat Serbien und landet in Deutschland. Ihre Entscheidung auszuwandern hat nichts mit Not zu tun, sondern mit Abenteuerlust und Fernweh.
Völlig weltfremd und gutgläubig schlittert sie von einer persönlichen Katastrophe in die nächste. Als sie sich am absoluten Rand des Abgrunds befindet, greift sie nach dem "letzten Strohhalm" und plötzlich treten eigenartige Ereignisse in ihr Leben ein, sie hat das Gefühl, sie kann ihr Schicksal lenken...
Kapitel 1.
Malidvor
“Um Wunder zu erleben,
muss man an sie glauben.”
Carl Ludwig Schleich
Die Wahrsagerin sah unheimlich aus! Uns Kindern erschien sie sogar ziemlich furchterregend. Meine Freundin Jovana und ich waren doch erst zehn oder elf Jahre alt, als wir heimlich zu dieser Frau gingen, die am Ende unserer Straße wohnte. Reine Neugier und Abenteuerlust haben uns dahin getrieben, da in unserer Stadt die Gerüchte über ihre unglaublichen hellseherischen Fähigkeiten kursierten. Wir wollten sie auf die Probe stellen und sie über unsere Zukunft ausfragen. Zu ihrer Bezahlung nahmen wir ein paar Eier mit, die wir in unseren Speisekammern mitgehen ließen.
Die alte Janja, so nannte sie jeder, wohnte in einem kleinen, heruntergekommenen Häuschen, mit einem etwas schiefen Ziegeldach und mit winzigen Fenstern, deren Glasscheiben schon lange nicht mehr gereinigt worden waren. Von den ehemals weißen Wänden bröckelte der Putz ab. Als nach unserem Klingeln das quietschende Eisentor geöffnet wurde, wichen wir im ersten Augenblick erschrocken zurück. Wir kannten Janja bisher nicht persönlich, sie verließ kaum ihr Haus. Eine Nachbarin versorgte die alleinstehende Greisin mit dem Nötigsten.
Wir hatten keine Ahnung was uns erwartete, doch die alte Frau entsprach sehr genau dem Bild der Hexen aus unseren Märchen. Sie stand bucklig da, hatte ein langes, schwarzes, abgetragenes Kleid an und trug ein schwarzes Kopftuch, unter dem ein paar graue Strähnen hervorlugten. Die meisten alten Frauen trugen damals schwarz, doch bei Janja wirkte dies auf uns irgendwie anders, unheimlich, wahrscheinlich wegen ihres mystischen Rufes. Ihr Gesicht war eine einzige Runzellandschaft, die kleinen dunklen Augen und der verkniffene Mund ließen sie böse und abweisend erscheinen, dazu wackelte sie mit dem Kopf, es sah fast so aus, als säße er nicht ganz fest auf ihrem faltigen Hals.
Janja war aber nicht böse. Sie lächelte uns an. Ihre gelblichen, schlechten Zähne passten zu dem ganzen Erscheinungsbild.
„Was wollt ihr Kinder?“ fragte sie und ihre zittrige Stimme drückte Wohlwollen aus, was uns etwas beruhigte.
„Wir… wir möchten gerne wissen, was aus uns wird“, brachte Jovana mühsam heraus. „Bitte, sagen Sie uns etwas über unser Schicksal“.
Janja musterte uns erstaunt, doch dann lächelte sie wieder, diesmal etwas breiter, sie schien belustigt zu sein. Ich hielt ihr das Körbchen mit den Eiern entgegen und sie warf einen Blick hinein. Ihr Kopf wackelte noch heftiger und sie hob ihre Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger in unsere Richtung.
„Wissen eure Eltern davon, dass ihr zu mir gekommen seid?“ fragte sie. Es folgte Stille, keine von uns beiden traute sich, ihr die Wahrheit zu sagen. Zu Lügen wagten wir es aber noch weniger - nicht bei einer so bekannten Wahrsagerin!
Sie ließ uns auch ohne eine Antwort herein und führte uns, über einen kleinen, mit Unkraut überwucherten Hof in ihre Wohnküche. Hier war es ziemlich dunkel, da vor dem einzigen Fenster, an der linken Wand vom Eingang, ein Holunderbusch wuchs, der das Licht nur spärlich hereinließ. Doch überraschenderweise war der armselig eingerichtete Raum sehr sauber und ordentlich. Auf dem alten Kohleofen neben dem Fenster stand ein Blechtopf und auf der anderen Seite des Fensters befand sich ein weißer Küchenschrank, der seine Glanzzeit längst hinter sich hatte. Die Mitte des Raumes füllte ein viereckiger Tisch aus, mit einem gelb und blau geblümten Wachstuch darauf und je einem Stuhl auf jeder Seite.
In der Ecke gegenüber der Tür befand sich eine Couch, die ein abgenutzter grüner Überwurf bedeckte. Darauf räkelte sich eine grauschwarz getigerte Katze, die bei unserem Eintreten den Kopf hob und uns mit ihren leuchtenden gelben Augen aufmerksam musterte, bevor sie sich auf der Liegestätte erneut genüsslich ausstreckte.
Wir nahmen auf den Stühlen Platz, und nachdem Janja die Eier im kleinen Vorratsraum verstaut und unser Körbchen auf den Tisch gestellt hatte, ließ auch sie sich nieder.
Jovana war als erste dran. Janja nahm ihre Hand, strich bedächtig mit ihrem krummen Zeigefinger über die Handfläche, betrachtete die Linien, studierte ihren Verlauf. Es herrschte eine gespannte Stille, Jovana und ich verfolgten mit großen Augen das Tun der Wahrsagerin und wagten kaum zu atmen. Die alte Frau sah schließlich Jovana in die Augen und wieder verzog sich ihr Mund zu einem kleinen schiefen Lächeln.
„Dein Leben wird in ruhigen Bahnen verlaufen“, sprach sie. „Du wirst einmal einen guten Mann heiraten und wirst zwei reizende Kinder haben.“
Sie schaute wieder Jovanas Hand an und dann sagte sie: „Dir steht ein langes, glückliches Leben bevor, es gibt nichts, was dich beunruhigen sollte.“
Jovana lächelte zufrieden und bedankte sich artig bei der Alten. Dann kam ich dran. Die Wahrsagerin nahm meine Hand, drehte die Handfläche nach oben und nachdem sie einen kurzen Blick darauf geworfen hatte, sprach sie:
„Du wirst eine große Liebe finden…“. Dann brach sie ab. Ihr Lächeln erlosch und sie starrte meine Handfläche irgendwie ratlos an, ohne ein weiteres Wort hervorzubringen.
„Und weiter?“ fragte ich ungeduldig. „Was wird in meinem Leben noch passieren?“
Janjas Kopf wackelte wieder stark. Sie ließ meine Hand los und sagte leise, mit einer krächzenden Stimme:
„Ich kann bei dir nichts mehr sehen.“
„Das kann nicht sein“, protestierte ich unfreundlicher als beabsichtigt. „Etwas müssen Sie doch sehen. Irgendetwas.“
Widerwillig nahm sie erneut meine Hand und flüsterte, wie für sich selbst: „Ich sehe viele Wendungen, es wird abwechslungsreich sein, dein Leben. Mehr ist nicht zu erkennen. Manchmal passiert es, dass ich nicht viel sehen kann.“
„Aber meine große Liebe, was wird aus ihr?“
„Das kann ich dir leider nicht sagen. Bitte geht jetzt, ich habe zu tun.“
Wir verließen das „Hexenhäuschen“, Jovana fröhlich, ich wütend und enttäuscht. Doch auf dem Weg nach Hause erstarrte ich für einen Augenblick. Die Worte der alten Frau, „Ich kann nichts mehr sehen“, lösten ganz plötzlich eine Erinnerung in mir aus, und zwar an die Geschichte, die mein Vater meiner Schwester und mir vor nicht allzu langer Zeit erzählt hatte. Er redete so gut wie nie mit uns Kindern über den Krieg, doch dieses eine Mal machte er eine Ausnahme. Er berichtete uns, wie er nach Ausbruch des Krieges zusammen mit einem Freund zu einer Wahrsagerin gegangen war. Die beiden wollten wissen, ob sie den Krieg gut überstehen würden. Meinem Vater sagte die Frau, er würde sehr krank werden, sogar am Rande des Todes geraten, es würde für ihn aber alles gut enden. Als der Freund dran war, behauptete die Wahrsagerin, sie könne bei ihm nichts sehen. Kein Wort war ihr zu entlocken. Mein Vater erkrankte im Krieg an Typhus, kämpfte lange gegen den Tod, doch er überlebte und kehrte nach Hause zurück. Sein Freund starb im Konzentrationslager. Diese Geschichte ging mir nach dem Besuch der alten Janja durch den Kopf und mir war mulmig zumute. Konnte sie bei mir wirklich nichts sehen, oder wollte sie mir nichts sagen, weil die Wahrheit zu unerfreulich war? Ich verbannte dieses Ereignis schnell aus meiner Gedankenwelt, tat es irgendwann als Unsinn ab und sorgte mich nicht weiter darum. Erst viele Jahre später kam mir das Verhalten der Wahrsagerin wieder in den Sinn. Vielleicht war es letztlich doch nicht das Getue einer armen, alten, einsamen Frau gewesen? War das, was sie in meiner Hand gesehen hatte, das Abbild der Ereignisse meiner späteren Jahre, das sie lieber für sich behielt, weil sie mich nicht erschrecken wollte?
***
In manchen Augenblicken habe ich das Gefühl, meine Heimat würde sich auf drei Länder verteilen. Auf Deutschland, wo ich seit mehr als vierzig Jahren lebe, wo ich mich zu Hause fühle und Freunde gefunden habe. Auf Italien, das Land, das ich zwar nur von vielen langen Urlauben her kenne, das mir aber seine Staatsbürgerschaft geschenkt hat. Es ist auch das Land, dessen Sprache ich beherrsche und das ich zu lieben gelernt habe. Doch meine eigentliche Heimat ist Serbien. Das Land in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin, wo meine Eltern gelebt haben, gestorben sind und eingeäschert wurden. Das Land in dem mein Elternhaus steht, das nun von meiner Schwester bewohnt und sorgfältig gepflegt wird.
Wenn ich an Serbien denke, dann erinnere ich mich unter anderem auch an das, was meine Eltern mich gelehrt hatten, an ihre Bemühungen, mich auf das Leben vorzubereiten. Auch wenn ich damals manche andere Dinge wichtiger nahm, blieb Vieles für immer in meinem Innern haften. Ehrlichkeit stand ganz oben auf dem Programm der Erziehung. Die Worte meines Vaters diesbezüglich habe ich nicht vergessen. „Du darfst nie etwas stehlen, nicht mal ein Streichholz. Das wäre der erste Schritt auf dem Weg ins Gefängnis.“
Die Worte meiner Mutter handelten oft über den Glauben und über die Wunder.
„Die Wunder, die gibt es“, sprach sie zu mir und meiner Schwester Vera. „Ihr werdet sie aber nur dann erleben, wenn ihr an sie glaubt.“
Und: „Wenn ihr euch etwas Bestimmtes wünscht, etwas, das euch nicht ganz unmöglich und auch nicht anmaßend erscheint, dann müsst ihr so fest daran glauben, dass ihr es herbeirufen könnt.“
Ich glaubte nicht an Wunder! An die Worte meiner Mutter erinnerte ich mich erst wieder, als ich der Hölle, die ich hatte durchwandern müssen, längst entronnen war.
Manchmal, nicht mehr ganz so oft, muss ich daran denken, wie ich einst um meine Freiheit gekämpft hatte. Wie ich, trotz des großen Widerstandes meiner Eltern und trotz der Gefährdung meines Vorhabens durch ein schlimmes Ereignis – das gewaltsame Ende des Prager Frühlings – es geschafft hatte, meinen Willen durchzusetzen und die serbische Heimat mit nur einem Koffer in der Hand zu verlassen, um endlich vollkommen frei zu sein. Das Jahr 1968 war ein günstiger Zeitpunkt dafür.
Ob es sich gelohnt hat? Ich weiß es nicht. Wie alles, hat auch diese Medaille zwei Seiten. Wenn ich aber tiefer darüber nachdenke, dann wird mir jedes Mal klar, dass ich dort nicht hätte bleiben können – bei aller Liebe zu meiner Heimat.
Diese Liebe zur Heimat, sie bleibt einem für immer erhalten.
.............................(Hier überspringe ich Einiges, ich stelle nur, für mich, die wichtigsten Teile des ersten Kapitels ein)
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Ich litt unter Abenteuerlust und Fernweh. Die Provinzstadt Malidvor war mir zu eng, zu kleinbürgerlich geworden. Heute muss ich gelegentlich daran denken, wie oft man seinem Glück davonläuft, weil man es nicht sieht und weil man auf der Suche ist – ja, wonach eigentlich? – weil man alles was einem teuer und lieb ist gedankenlos hinter sich lässt. Nein, ich bin nicht unglücklich, ich habe mich in meiner Wahlheimat Deutschland gut eingelebt, vom Heimweh ist nur noch selten ein Hauch zu spüren. Doch in manchen Augenblicken, wenn die Erinnerung an die Geborgenheit, die mir die Familie und die Heimat geboten hatten, wieder da ist, an den unwiderruflichen Abschied für immer, kann ich mich einer gewissen Melancholie nicht erwehren.
In meiner Jugendzeit träumte ich aber nur von der „großen, weiten Welt“ in die ich entfliehen wollte, um sie für mich zu erobern.
Ich komme aus einer gläubigen Familie. Meine Eltern haben uns Kinder auf eine liebevolle und sorgfältige Art den Glauben an Gott nahe gebracht. Sie waren sehr religiös und gleichzeitig weltoffen und tolerant den Andersdenkenden gegenüber. Ich erinnere mich heute mit Bewunderung und Dankbarkeit an meinen Vater und an meine Mutter, an das, was sie mich gelehrt hatten: die Menschen soll man nicht nach ihrem Äußeren beurteilen, nach dem, welcher Nationalität oder welchem Glauben sie angehören – wir waren Christen und unserem Glauben treu – sondern nach ihrem Charakter. Egal ob jemand früher einmal ein Klosterschüler war oder im Gefängnis saß, wichtig ist nur, ob er heute ein guter Mensch ist, der die Anderen achtet und keinen mit Absicht zu verletzen versucht.
Ich war ganz bestimmt nicht schlecht. Ich hatte jedoch so manche Kämpfe mit meiner Familie durchzustehen, wegen meiner Freiheitsliebe und gelegentlichem Ungehorsams.
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Im Großen und Ganzen verstieß ich aber nicht gegen die Regeln, um den guten Ruf meiner Familie nicht zu gefährden.
Was den Glauben angeht, sehe ich mich heute als das „schwarze Schaf“ der Familie. Ich glaubte zwar an Gott, bin Sonntags mit in die Kirche gegangen und betete mit den Eltern das Abendgebet, doch kümmerte ich mich sonst absolut nicht um den Glauben. Bei unseren Gebeten, oder auch bei der Heiligen Messe, war ich mit meinen Gedanken meist wo anders: beim Spazieren mit der besten Freundin Edina, oder beim Treffen mit den Jungs, die mir gefallen hätten können.
Ich redete nicht mit Gott, weder bat ich um etwas, noch bedankte ich mich für das Gute das mir widerfuhr. Ich kümmerte mich nur um mich selbst und um meine Träume.
Dieser Glaube, der tief aus dem Innern kommt, der einem die Geborgenheit und die Sicherheit zu geben vermag, dieser Glaube trat erst viel später in mein Leben ein, durch einige wunderbare, eigenartige, für manche Menschen sicher unglaubliche Ereignisse. Doch darüber später.
Nein, ich kam in meinen unbeschwerten Zeiten zu Hause nie auf die Idee, ich würde Gottes Hilfe oder Beistand benötigen. Ich hatte ja alles. Alles außer der von mir so heiß ersehnten Freiheit.
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Als einen Lichtblick erlebte ich meine erste große Liebe - Dejan - eine Liebe, die jedoch tragisch endete, bevor sie überhaupt richtig begann. Ich denke heute im Nachhinein, wenn dies anders verlaufen wäre, dann wäre ich vielleicht immer noch dort, wo mein Zuhause war, als eine Ehefrau und Mutter, die ihr Schicksal angenommen und sich von den Illusionen über die aufregende „weite Welt“ verabschiedet hat, weil sie ihre große Liebe gefunden und ihre eigene Familie gegründet hat – vielleicht. Genau wird man es nie wissen, denn es hatte nicht sein sollen. Es blieb bei einer rein platonischen Liebe, die, obwohl sie nur von kurzer Dauer war, verheerende Auswirkungen auf mein späteres Leben haben sollte.
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Dann musste er zum Militär, zur Marine in einer Küstenstadt von Montenegro. Montenegro! Der schwarze Berg! Dieser Name verursacht auch heute noch ab und an ein beklemmendes Gefühl in meinem Innern – auch wenn Montenegro für mich eines der schönsten Fleckchen der Erde ist, mit seiner herrlichen Küste und der wilden Landschaft steiler Berge und tiefer Täler.
Bereits wenige Wochen nach Dejans Übersiedlung an die Adriaküste, kam eine Schulfreundin zu uns nach Hause und teilte mir nüchtern, ohne jede Gefühlsregung mit, Dejan sei tot – in den Bergen von Montenegro abgestürzt.
Ich konnte mehrere Tage lang nicht sprechen, nicht weinen. Später weinte ich wochenlang, meine Mutter wollte mir sogar verbieten, zum Friedhof zu gehen, weil ich mich nur noch dort aufhielt. Ich ließ es mir aber nicht nehmen, an seinem Grab zu sein und zu weinen, ging abends dorthin und sagte meiner Familie stets, ich würde eine Freundin besuchen. Wie ein Film lief vor meinem inneren Auge ununterbrochen die Zeit unserer Bekanntschaft ab, schmerzte mich unsere unerfüllte Sehnsucht und ich fühlte mich schuldig, weil er meinetwegen gelitten hatte. Ich machte mir die größten Vorwürfe, dachte mir immer wieder, hätte ich doch Mut gehabt, diese Liebe zuzulassen. Das alles machte meine Trauer fast unerträglich, wie auch der Gedanke, dass ich ihn nie wieder sehen würde, um ihm zu sagen, was ich wirklich für ihn empfand.
Als die größte Trauer etwas abgeklungen war, entschloss ich mich endgültig zu gehen – nur für ein Jahr. Länger wollte ich meiner Heimat nicht fernbleiben. Ich wagte es nicht, mit meiner Familie darüber zu reden, weil ich genau wusste, welche Reaktionen ich zu erwarten hatte. Keiner hätte für mich Verständnis aufgebracht, jeder hätte versucht, mich dazu zu bewegen, meine Pläne aufzugeben. Der häusliche Friede wäre zerstört gewesen, bevor es überhaupt feststand, dass ich tatsächlich gehen könnte.
Ich war neunzehn Jahre alt, somit volljährig, ging heimlich zum Arbeitsamt und bat darum, mich irgendwohin ins Ausland zu schicken, egal wohin, Hauptsache weit weg und für nicht länger als ein Jahr.
Das war Ende der Sechzigerjahre, ein günstiger Zeitpunkt für mich, da damals viele Menschen als ‚Gastarbeiter’ in fremde Länder auswanderten, die meisten nach Deutschland und Österreich aber auch nach Frankreich und Schweden, vorwiegend aus Not, wenige aus Abenteuerlust, wie ich.
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Dann geschah etwas, was mich in große Angst versetzte, niemals ausreisen zu können. Der Prager Frühling!
Für die Politik hatte ich mich nie sonderlich interessiert. Meine Steckenpferde waren auf viele andere Bereiche verteilt: ich war im Schwimmverein, im Schachclub und im Winter verbrachte ich die meiste Zeit auf dem Eislaufplatz. Ich war mit Begeisterung dabei, alles auszuprobieren, begleitet von der Musik aus den Lautsprechern, meistens von den Shadows. In unserer kleinen Stadt gab es aber keine Möglichkeit, auf diesem Gebiet groß herauszukommen.
Ich verschlang Dostojewski und Balzac. Aber auch Daphne du Maurier und Edgar Allan Poe. Ich mochte Klassik, genau so wie Pop und Rock. Wenn meine Lieblingsgruppe „The Kinks“ im Radio ihr „Dandy“ sang, oder die Rolling Stones donnerten, dann flüchtete meine Mutter aus unserer Wohnküche, weil ich es auf voller Lautstärke hören musste. Wir konnten aber auch einige meiner Lieblingslieder gemeinsam hören, wie „Melodie d´Amour“ von Edmundo Rossi, oder „Guantanamera“ von The Sandpipers. Diese Lieder mochte meine Mutter genau so sehr wie ich.
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Prager Frühling! Ich bekam nur so am Rande mit, was dort in der Tschechoslowakei passierte. Der Kommunismus sollte „liberalisiert“ und demokratisiert werden. Diese Bewegung nannte man nach dem gleichnamigen Musikfestival und der Jahreszeit, in welcher er stattfand.
Doch in der Sowjetunion sah man im „Prager Frühling“ eine Gefahr für die Einheitlichkeit des Ostblocks. So geschah etwas, was auch unser Leben aus den gewohnten Bahnen warf. In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 waren die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschiert und hatten das Land besetzt. Es gab viele Verletzte und Tote.
In den folgenden Tagen waren die Zeitungen voll von Schreckensmeldungen über die Ereignisse in der Tschechoslowakei. Im Radio und im Fernseher bekam man kaum etwas Anderes zu hören und zu sehen. Das ging auch an mir nicht spurlos vorüber; es ließ mich nicht kalt. Ich sah die Bilder in der Zeitung – Frauen, die sich vor die feindlichen Panzer geworfen hatten um ihnen die Durchfahrt zu verwehren, eine Fahne, rot vom Blut eines getöteten Studenten. Ich las die Texte dazu. Die Menschen hatten die fremden Soldaten gefragt, warum sie in ihr Land eingedrungen waren. Die Antwort lautete „um das Land vor den Kapitalisten zu schützen“.
Ich sah die Angst in den Gesichtern meiner Eltern. Sie hatten die ganzen Gräuel eines Krieges am eigenen Leib erfahren und viele Familienmitglieder verloren. Mein Vater war nur knapp dem Tod im Konzentrationslager entkommen, seine Geschwister und eine Schwägerin, deren Vornamen meine Eltern für mich gewählt hatten, und auch zwei kleine Kinder, entkamen diesem grausamen Schicksal nicht. Der Vater meiner Mutter, mein Großvater, starb in Dachau, weil sich sein Sohn den Partisanen angeschlossen hatte. Vera und ich kannten keinen Krieg, doch konnten wir die Unruhe und die Angst meiner Eltern vor einem neuen Krieg nachempfinden.
Es herrschte eine bedrückende Atmosphäre, nicht nur in meinem Elternhaus, sondern in der ganzen Stadt. Menschen hatten Angst, dass uns das Gleiche passieren könnte wie den Tschechen, dass man unser Land auch überfallen und uns unserer Freiheit berauben würde. Das alles geschah kurz vor meinem Abreisetermin. Ich sollte am 30. August meinen Zug in Richtung Österreich besteigen.
Dann brachten die Zeitungen Nachrichten, die mich persönlich betrafen. Der Präsident Tito ließ unsere Grenzen durch die Armee schützen. Auf keinen Fall sollten wir das Schicksal der Tschechoslowakei teilen. Die Grenzen unseres Landes wurden „abgeriegelt“, was bedeutete, es gab keine Einreise und keine Ausreise mehr. Ausnahmslos. Mich erfasste eine große Unruhe. Die Angst davor, niemals ins Ausland reisen zu können und für alle Zeiten hier ‚gefangen’ zu sein, überwog alles andere. Die Menschen beteten für den Frieden, für die Sicherheit unseres Landes. Ich verzog mich in ein abgelegenes Zimmer unseres Hauses und betete, Gott möge für mich die Grenzen wieder öffnen. Ich kann mich heute nicht mehr in die Gefühlswelt dieses Mädchens hineinversetzen, dieser Arleta von damals, die in solchen tragischen Momenten hauptsächlich an sich und ihr Wohlergehen gedacht hatte. Dann aber kommt mir in den Sinn, dass dies vielleicht eine Antwort auf die vielen offenen Fragen sein könnte. Man sagt, für alles im Leben muss man bezahlen, auch wenn man Fehler in der Vergangenheit nicht bewusst begangen, jemanden nicht mit Absicht verletzt hat. Wenn das so ist, dann habe ich für meine Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit teuer bezahlt. Auch für den Kummer, den ich meiner Familie bereitet hatte.
Zu der Zeit aber sorgte ich mich hauptsächlich, ob und wann ich endlich aufbrechen könnte. Ich hatte Glück. Die Grenzen wurden rechtzeitig wieder geöffnet.
Ich verabschiedete mich von meiner Freundin Edina, mit dem Versprechen, ich würde sie nie vergessen und wäre ohnehin in einem Jahr wieder zurück.
Ich ging durch unser Haus und sah mir alles genau an, all die Gegenstände, denen ich vorher nie besonders viel Beachtung geschenkt hatte. In diesen letzten Momenten zu Hause wurde mein Herz doch schwer. Nur der Gedanke, dass ich wieder zurückkehren würde, ließ es mich leichter ertragen.
Vera fuhr bis nach Slowenien mit, zu unseren Verwandten mütterlicherseits, die dort lebten.
Von meiner Mutter verabschiedete ich mich im Hof unseres Hauses. Sie stand still da, ohne Tränen, an den Stufen unserer Veranda, schattig umrahmt, rechts vom Linden- und links vom Walnussbaum.
Es war ein strahlender Sommertag, einer jener Tage, an welchen wir normalerweise zum Baden an den Donaukanal fuhren, oder einen Fahrradausflug durch die Dörfer mit den vielen Bauernhöfen unternahmen. Doch dieser Tag war anders. Mutters versteinerte Miene blieb in meiner Erinnerung für immer haften. Da es damals keine Taxis gab, brachte uns mein Vater in einer gemieteten Pferdekutsche zum Bahnhof. Die Tränen liefen ihm das Gesicht hinunter; sein Gesichtsausdruck verriet Betroffenheit, eine tiefe Traurigkeit. Ich sah aus dem Zugfenster und winkte, bis er meinen Blicken entschwunden war.
So fuhr ich davon, voll der schönsten Träume und Illusionen – nicht für ein Jahr, wie versprochen, sondern für immer.
Nun möchte ich auch gerne Euer Urteil über meinen Roman „Wer an Wunder glaubt“ empfangen und stelle hier einige Ausschnitte aus dem ersten Kapitel ein.
Bitte um ganz ehrliche, schonungslose Kritik, nur so kann man mir weiter helfen. Über den Lob freue ich mich natürlich auch – falls er genau so ehrlich aus dem Innern kommt.
Dieser Roman ist keine reine Biographie - er ist im Roman-Stil geschrieben, also ein Roman nach wahren Begebenheiten - ein Tatsachenroman.
Vielen Dank für Eure Mühe im Voraus.
Wer an Wunder glaubt - kleine Einführung
Arleta verlässt als ein junges Mädchen ihre Heimat Serbien und landet in Deutschland. Ihre Entscheidung auszuwandern hat nichts mit Not zu tun, sondern mit Abenteuerlust und Fernweh.
Völlig weltfremd und gutgläubig schlittert sie von einer persönlichen Katastrophe in die nächste. Als sie sich am absoluten Rand des Abgrunds befindet, greift sie nach dem "letzten Strohhalm" und plötzlich treten eigenartige Ereignisse in ihr Leben ein, sie hat das Gefühl, sie kann ihr Schicksal lenken...
Kapitel 1.
Malidvor
“Um Wunder zu erleben,
muss man an sie glauben.”
Carl Ludwig Schleich
Die Wahrsagerin sah unheimlich aus! Uns Kindern erschien sie sogar ziemlich furchterregend. Meine Freundin Jovana und ich waren doch erst zehn oder elf Jahre alt, als wir heimlich zu dieser Frau gingen, die am Ende unserer Straße wohnte. Reine Neugier und Abenteuerlust haben uns dahin getrieben, da in unserer Stadt die Gerüchte über ihre unglaublichen hellseherischen Fähigkeiten kursierten. Wir wollten sie auf die Probe stellen und sie über unsere Zukunft ausfragen. Zu ihrer Bezahlung nahmen wir ein paar Eier mit, die wir in unseren Speisekammern mitgehen ließen.
Die alte Janja, so nannte sie jeder, wohnte in einem kleinen, heruntergekommenen Häuschen, mit einem etwas schiefen Ziegeldach und mit winzigen Fenstern, deren Glasscheiben schon lange nicht mehr gereinigt worden waren. Von den ehemals weißen Wänden bröckelte der Putz ab. Als nach unserem Klingeln das quietschende Eisentor geöffnet wurde, wichen wir im ersten Augenblick erschrocken zurück. Wir kannten Janja bisher nicht persönlich, sie verließ kaum ihr Haus. Eine Nachbarin versorgte die alleinstehende Greisin mit dem Nötigsten.
Wir hatten keine Ahnung was uns erwartete, doch die alte Frau entsprach sehr genau dem Bild der Hexen aus unseren Märchen. Sie stand bucklig da, hatte ein langes, schwarzes, abgetragenes Kleid an und trug ein schwarzes Kopftuch, unter dem ein paar graue Strähnen hervorlugten. Die meisten alten Frauen trugen damals schwarz, doch bei Janja wirkte dies auf uns irgendwie anders, unheimlich, wahrscheinlich wegen ihres mystischen Rufes. Ihr Gesicht war eine einzige Runzellandschaft, die kleinen dunklen Augen und der verkniffene Mund ließen sie böse und abweisend erscheinen, dazu wackelte sie mit dem Kopf, es sah fast so aus, als säße er nicht ganz fest auf ihrem faltigen Hals.
Janja war aber nicht böse. Sie lächelte uns an. Ihre gelblichen, schlechten Zähne passten zu dem ganzen Erscheinungsbild.
„Was wollt ihr Kinder?“ fragte sie und ihre zittrige Stimme drückte Wohlwollen aus, was uns etwas beruhigte.
„Wir… wir möchten gerne wissen, was aus uns wird“, brachte Jovana mühsam heraus. „Bitte, sagen Sie uns etwas über unser Schicksal“.
Janja musterte uns erstaunt, doch dann lächelte sie wieder, diesmal etwas breiter, sie schien belustigt zu sein. Ich hielt ihr das Körbchen mit den Eiern entgegen und sie warf einen Blick hinein. Ihr Kopf wackelte noch heftiger und sie hob ihre Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger in unsere Richtung.
„Wissen eure Eltern davon, dass ihr zu mir gekommen seid?“ fragte sie. Es folgte Stille, keine von uns beiden traute sich, ihr die Wahrheit zu sagen. Zu Lügen wagten wir es aber noch weniger - nicht bei einer so bekannten Wahrsagerin!
Sie ließ uns auch ohne eine Antwort herein und führte uns, über einen kleinen, mit Unkraut überwucherten Hof in ihre Wohnküche. Hier war es ziemlich dunkel, da vor dem einzigen Fenster, an der linken Wand vom Eingang, ein Holunderbusch wuchs, der das Licht nur spärlich hereinließ. Doch überraschenderweise war der armselig eingerichtete Raum sehr sauber und ordentlich. Auf dem alten Kohleofen neben dem Fenster stand ein Blechtopf und auf der anderen Seite des Fensters befand sich ein weißer Küchenschrank, der seine Glanzzeit längst hinter sich hatte. Die Mitte des Raumes füllte ein viereckiger Tisch aus, mit einem gelb und blau geblümten Wachstuch darauf und je einem Stuhl auf jeder Seite.
In der Ecke gegenüber der Tür befand sich eine Couch, die ein abgenutzter grüner Überwurf bedeckte. Darauf räkelte sich eine grauschwarz getigerte Katze, die bei unserem Eintreten den Kopf hob und uns mit ihren leuchtenden gelben Augen aufmerksam musterte, bevor sie sich auf der Liegestätte erneut genüsslich ausstreckte.
Wir nahmen auf den Stühlen Platz, und nachdem Janja die Eier im kleinen Vorratsraum verstaut und unser Körbchen auf den Tisch gestellt hatte, ließ auch sie sich nieder.
Jovana war als erste dran. Janja nahm ihre Hand, strich bedächtig mit ihrem krummen Zeigefinger über die Handfläche, betrachtete die Linien, studierte ihren Verlauf. Es herrschte eine gespannte Stille, Jovana und ich verfolgten mit großen Augen das Tun der Wahrsagerin und wagten kaum zu atmen. Die alte Frau sah schließlich Jovana in die Augen und wieder verzog sich ihr Mund zu einem kleinen schiefen Lächeln.
„Dein Leben wird in ruhigen Bahnen verlaufen“, sprach sie. „Du wirst einmal einen guten Mann heiraten und wirst zwei reizende Kinder haben.“
Sie schaute wieder Jovanas Hand an und dann sagte sie: „Dir steht ein langes, glückliches Leben bevor, es gibt nichts, was dich beunruhigen sollte.“
Jovana lächelte zufrieden und bedankte sich artig bei der Alten. Dann kam ich dran. Die Wahrsagerin nahm meine Hand, drehte die Handfläche nach oben und nachdem sie einen kurzen Blick darauf geworfen hatte, sprach sie:
„Du wirst eine große Liebe finden…“. Dann brach sie ab. Ihr Lächeln erlosch und sie starrte meine Handfläche irgendwie ratlos an, ohne ein weiteres Wort hervorzubringen.
„Und weiter?“ fragte ich ungeduldig. „Was wird in meinem Leben noch passieren?“
Janjas Kopf wackelte wieder stark. Sie ließ meine Hand los und sagte leise, mit einer krächzenden Stimme:
„Ich kann bei dir nichts mehr sehen.“
„Das kann nicht sein“, protestierte ich unfreundlicher als beabsichtigt. „Etwas müssen Sie doch sehen. Irgendetwas.“
Widerwillig nahm sie erneut meine Hand und flüsterte, wie für sich selbst: „Ich sehe viele Wendungen, es wird abwechslungsreich sein, dein Leben. Mehr ist nicht zu erkennen. Manchmal passiert es, dass ich nicht viel sehen kann.“
„Aber meine große Liebe, was wird aus ihr?“
„Das kann ich dir leider nicht sagen. Bitte geht jetzt, ich habe zu tun.“
Wir verließen das „Hexenhäuschen“, Jovana fröhlich, ich wütend und enttäuscht. Doch auf dem Weg nach Hause erstarrte ich für einen Augenblick. Die Worte der alten Frau, „Ich kann nichts mehr sehen“, lösten ganz plötzlich eine Erinnerung in mir aus, und zwar an die Geschichte, die mein Vater meiner Schwester und mir vor nicht allzu langer Zeit erzählt hatte. Er redete so gut wie nie mit uns Kindern über den Krieg, doch dieses eine Mal machte er eine Ausnahme. Er berichtete uns, wie er nach Ausbruch des Krieges zusammen mit einem Freund zu einer Wahrsagerin gegangen war. Die beiden wollten wissen, ob sie den Krieg gut überstehen würden. Meinem Vater sagte die Frau, er würde sehr krank werden, sogar am Rande des Todes geraten, es würde für ihn aber alles gut enden. Als der Freund dran war, behauptete die Wahrsagerin, sie könne bei ihm nichts sehen. Kein Wort war ihr zu entlocken. Mein Vater erkrankte im Krieg an Typhus, kämpfte lange gegen den Tod, doch er überlebte und kehrte nach Hause zurück. Sein Freund starb im Konzentrationslager. Diese Geschichte ging mir nach dem Besuch der alten Janja durch den Kopf und mir war mulmig zumute. Konnte sie bei mir wirklich nichts sehen, oder wollte sie mir nichts sagen, weil die Wahrheit zu unerfreulich war? Ich verbannte dieses Ereignis schnell aus meiner Gedankenwelt, tat es irgendwann als Unsinn ab und sorgte mich nicht weiter darum. Erst viele Jahre später kam mir das Verhalten der Wahrsagerin wieder in den Sinn. Vielleicht war es letztlich doch nicht das Getue einer armen, alten, einsamen Frau gewesen? War das, was sie in meiner Hand gesehen hatte, das Abbild der Ereignisse meiner späteren Jahre, das sie lieber für sich behielt, weil sie mich nicht erschrecken wollte?
***
In manchen Augenblicken habe ich das Gefühl, meine Heimat würde sich auf drei Länder verteilen. Auf Deutschland, wo ich seit mehr als vierzig Jahren lebe, wo ich mich zu Hause fühle und Freunde gefunden habe. Auf Italien, das Land, das ich zwar nur von vielen langen Urlauben her kenne, das mir aber seine Staatsbürgerschaft geschenkt hat. Es ist auch das Land, dessen Sprache ich beherrsche und das ich zu lieben gelernt habe. Doch meine eigentliche Heimat ist Serbien. Das Land in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin, wo meine Eltern gelebt haben, gestorben sind und eingeäschert wurden. Das Land in dem mein Elternhaus steht, das nun von meiner Schwester bewohnt und sorgfältig gepflegt wird.
Wenn ich an Serbien denke, dann erinnere ich mich unter anderem auch an das, was meine Eltern mich gelehrt hatten, an ihre Bemühungen, mich auf das Leben vorzubereiten. Auch wenn ich damals manche andere Dinge wichtiger nahm, blieb Vieles für immer in meinem Innern haften. Ehrlichkeit stand ganz oben auf dem Programm der Erziehung. Die Worte meines Vaters diesbezüglich habe ich nicht vergessen. „Du darfst nie etwas stehlen, nicht mal ein Streichholz. Das wäre der erste Schritt auf dem Weg ins Gefängnis.“
Die Worte meiner Mutter handelten oft über den Glauben und über die Wunder.
„Die Wunder, die gibt es“, sprach sie zu mir und meiner Schwester Vera. „Ihr werdet sie aber nur dann erleben, wenn ihr an sie glaubt.“
Und: „Wenn ihr euch etwas Bestimmtes wünscht, etwas, das euch nicht ganz unmöglich und auch nicht anmaßend erscheint, dann müsst ihr so fest daran glauben, dass ihr es herbeirufen könnt.“
Ich glaubte nicht an Wunder! An die Worte meiner Mutter erinnerte ich mich erst wieder, als ich der Hölle, die ich hatte durchwandern müssen, längst entronnen war.
Manchmal, nicht mehr ganz so oft, muss ich daran denken, wie ich einst um meine Freiheit gekämpft hatte. Wie ich, trotz des großen Widerstandes meiner Eltern und trotz der Gefährdung meines Vorhabens durch ein schlimmes Ereignis – das gewaltsame Ende des Prager Frühlings – es geschafft hatte, meinen Willen durchzusetzen und die serbische Heimat mit nur einem Koffer in der Hand zu verlassen, um endlich vollkommen frei zu sein. Das Jahr 1968 war ein günstiger Zeitpunkt dafür.
Ob es sich gelohnt hat? Ich weiß es nicht. Wie alles, hat auch diese Medaille zwei Seiten. Wenn ich aber tiefer darüber nachdenke, dann wird mir jedes Mal klar, dass ich dort nicht hätte bleiben können – bei aller Liebe zu meiner Heimat.
Diese Liebe zur Heimat, sie bleibt einem für immer erhalten.
.............................(Hier überspringe ich Einiges, ich stelle nur, für mich, die wichtigsten Teile des ersten Kapitels ein)
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Ich litt unter Abenteuerlust und Fernweh. Die Provinzstadt Malidvor war mir zu eng, zu kleinbürgerlich geworden. Heute muss ich gelegentlich daran denken, wie oft man seinem Glück davonläuft, weil man es nicht sieht und weil man auf der Suche ist – ja, wonach eigentlich? – weil man alles was einem teuer und lieb ist gedankenlos hinter sich lässt. Nein, ich bin nicht unglücklich, ich habe mich in meiner Wahlheimat Deutschland gut eingelebt, vom Heimweh ist nur noch selten ein Hauch zu spüren. Doch in manchen Augenblicken, wenn die Erinnerung an die Geborgenheit, die mir die Familie und die Heimat geboten hatten, wieder da ist, an den unwiderruflichen Abschied für immer, kann ich mich einer gewissen Melancholie nicht erwehren.
In meiner Jugendzeit träumte ich aber nur von der „großen, weiten Welt“ in die ich entfliehen wollte, um sie für mich zu erobern.
Ich komme aus einer gläubigen Familie. Meine Eltern haben uns Kinder auf eine liebevolle und sorgfältige Art den Glauben an Gott nahe gebracht. Sie waren sehr religiös und gleichzeitig weltoffen und tolerant den Andersdenkenden gegenüber. Ich erinnere mich heute mit Bewunderung und Dankbarkeit an meinen Vater und an meine Mutter, an das, was sie mich gelehrt hatten: die Menschen soll man nicht nach ihrem Äußeren beurteilen, nach dem, welcher Nationalität oder welchem Glauben sie angehören – wir waren Christen und unserem Glauben treu – sondern nach ihrem Charakter. Egal ob jemand früher einmal ein Klosterschüler war oder im Gefängnis saß, wichtig ist nur, ob er heute ein guter Mensch ist, der die Anderen achtet und keinen mit Absicht zu verletzen versucht.
Ich war ganz bestimmt nicht schlecht. Ich hatte jedoch so manche Kämpfe mit meiner Familie durchzustehen, wegen meiner Freiheitsliebe und gelegentlichem Ungehorsams.
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Im Großen und Ganzen verstieß ich aber nicht gegen die Regeln, um den guten Ruf meiner Familie nicht zu gefährden.
Was den Glauben angeht, sehe ich mich heute als das „schwarze Schaf“ der Familie. Ich glaubte zwar an Gott, bin Sonntags mit in die Kirche gegangen und betete mit den Eltern das Abendgebet, doch kümmerte ich mich sonst absolut nicht um den Glauben. Bei unseren Gebeten, oder auch bei der Heiligen Messe, war ich mit meinen Gedanken meist wo anders: beim Spazieren mit der besten Freundin Edina, oder beim Treffen mit den Jungs, die mir gefallen hätten können.
Ich redete nicht mit Gott, weder bat ich um etwas, noch bedankte ich mich für das Gute das mir widerfuhr. Ich kümmerte mich nur um mich selbst und um meine Träume.
Dieser Glaube, der tief aus dem Innern kommt, der einem die Geborgenheit und die Sicherheit zu geben vermag, dieser Glaube trat erst viel später in mein Leben ein, durch einige wunderbare, eigenartige, für manche Menschen sicher unglaubliche Ereignisse. Doch darüber später.
Nein, ich kam in meinen unbeschwerten Zeiten zu Hause nie auf die Idee, ich würde Gottes Hilfe oder Beistand benötigen. Ich hatte ja alles. Alles außer der von mir so heiß ersehnten Freiheit.
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Als einen Lichtblick erlebte ich meine erste große Liebe - Dejan - eine Liebe, die jedoch tragisch endete, bevor sie überhaupt richtig begann. Ich denke heute im Nachhinein, wenn dies anders verlaufen wäre, dann wäre ich vielleicht immer noch dort, wo mein Zuhause war, als eine Ehefrau und Mutter, die ihr Schicksal angenommen und sich von den Illusionen über die aufregende „weite Welt“ verabschiedet hat, weil sie ihre große Liebe gefunden und ihre eigene Familie gegründet hat – vielleicht. Genau wird man es nie wissen, denn es hatte nicht sein sollen. Es blieb bei einer rein platonischen Liebe, die, obwohl sie nur von kurzer Dauer war, verheerende Auswirkungen auf mein späteres Leben haben sollte.
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Dann musste er zum Militär, zur Marine in einer Küstenstadt von Montenegro. Montenegro! Der schwarze Berg! Dieser Name verursacht auch heute noch ab und an ein beklemmendes Gefühl in meinem Innern – auch wenn Montenegro für mich eines der schönsten Fleckchen der Erde ist, mit seiner herrlichen Küste und der wilden Landschaft steiler Berge und tiefer Täler.
Bereits wenige Wochen nach Dejans Übersiedlung an die Adriaküste, kam eine Schulfreundin zu uns nach Hause und teilte mir nüchtern, ohne jede Gefühlsregung mit, Dejan sei tot – in den Bergen von Montenegro abgestürzt.
Ich konnte mehrere Tage lang nicht sprechen, nicht weinen. Später weinte ich wochenlang, meine Mutter wollte mir sogar verbieten, zum Friedhof zu gehen, weil ich mich nur noch dort aufhielt. Ich ließ es mir aber nicht nehmen, an seinem Grab zu sein und zu weinen, ging abends dorthin und sagte meiner Familie stets, ich würde eine Freundin besuchen. Wie ein Film lief vor meinem inneren Auge ununterbrochen die Zeit unserer Bekanntschaft ab, schmerzte mich unsere unerfüllte Sehnsucht und ich fühlte mich schuldig, weil er meinetwegen gelitten hatte. Ich machte mir die größten Vorwürfe, dachte mir immer wieder, hätte ich doch Mut gehabt, diese Liebe zuzulassen. Das alles machte meine Trauer fast unerträglich, wie auch der Gedanke, dass ich ihn nie wieder sehen würde, um ihm zu sagen, was ich wirklich für ihn empfand.
Als die größte Trauer etwas abgeklungen war, entschloss ich mich endgültig zu gehen – nur für ein Jahr. Länger wollte ich meiner Heimat nicht fernbleiben. Ich wagte es nicht, mit meiner Familie darüber zu reden, weil ich genau wusste, welche Reaktionen ich zu erwarten hatte. Keiner hätte für mich Verständnis aufgebracht, jeder hätte versucht, mich dazu zu bewegen, meine Pläne aufzugeben. Der häusliche Friede wäre zerstört gewesen, bevor es überhaupt feststand, dass ich tatsächlich gehen könnte.
Ich war neunzehn Jahre alt, somit volljährig, ging heimlich zum Arbeitsamt und bat darum, mich irgendwohin ins Ausland zu schicken, egal wohin, Hauptsache weit weg und für nicht länger als ein Jahr.
Das war Ende der Sechzigerjahre, ein günstiger Zeitpunkt für mich, da damals viele Menschen als ‚Gastarbeiter’ in fremde Länder auswanderten, die meisten nach Deutschland und Österreich aber auch nach Frankreich und Schweden, vorwiegend aus Not, wenige aus Abenteuerlust, wie ich.
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Dann geschah etwas, was mich in große Angst versetzte, niemals ausreisen zu können. Der Prager Frühling!
Für die Politik hatte ich mich nie sonderlich interessiert. Meine Steckenpferde waren auf viele andere Bereiche verteilt: ich war im Schwimmverein, im Schachclub und im Winter verbrachte ich die meiste Zeit auf dem Eislaufplatz. Ich war mit Begeisterung dabei, alles auszuprobieren, begleitet von der Musik aus den Lautsprechern, meistens von den Shadows. In unserer kleinen Stadt gab es aber keine Möglichkeit, auf diesem Gebiet groß herauszukommen.
Ich verschlang Dostojewski und Balzac. Aber auch Daphne du Maurier und Edgar Allan Poe. Ich mochte Klassik, genau so wie Pop und Rock. Wenn meine Lieblingsgruppe „The Kinks“ im Radio ihr „Dandy“ sang, oder die Rolling Stones donnerten, dann flüchtete meine Mutter aus unserer Wohnküche, weil ich es auf voller Lautstärke hören musste. Wir konnten aber auch einige meiner Lieblingslieder gemeinsam hören, wie „Melodie d´Amour“ von Edmundo Rossi, oder „Guantanamera“ von The Sandpipers. Diese Lieder mochte meine Mutter genau so sehr wie ich.
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Prager Frühling! Ich bekam nur so am Rande mit, was dort in der Tschechoslowakei passierte. Der Kommunismus sollte „liberalisiert“ und demokratisiert werden. Diese Bewegung nannte man nach dem gleichnamigen Musikfestival und der Jahreszeit, in welcher er stattfand.
Doch in der Sowjetunion sah man im „Prager Frühling“ eine Gefahr für die Einheitlichkeit des Ostblocks. So geschah etwas, was auch unser Leben aus den gewohnten Bahnen warf. In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 waren die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschiert und hatten das Land besetzt. Es gab viele Verletzte und Tote.
In den folgenden Tagen waren die Zeitungen voll von Schreckensmeldungen über die Ereignisse in der Tschechoslowakei. Im Radio und im Fernseher bekam man kaum etwas Anderes zu hören und zu sehen. Das ging auch an mir nicht spurlos vorüber; es ließ mich nicht kalt. Ich sah die Bilder in der Zeitung – Frauen, die sich vor die feindlichen Panzer geworfen hatten um ihnen die Durchfahrt zu verwehren, eine Fahne, rot vom Blut eines getöteten Studenten. Ich las die Texte dazu. Die Menschen hatten die fremden Soldaten gefragt, warum sie in ihr Land eingedrungen waren. Die Antwort lautete „um das Land vor den Kapitalisten zu schützen“.
Ich sah die Angst in den Gesichtern meiner Eltern. Sie hatten die ganzen Gräuel eines Krieges am eigenen Leib erfahren und viele Familienmitglieder verloren. Mein Vater war nur knapp dem Tod im Konzentrationslager entkommen, seine Geschwister und eine Schwägerin, deren Vornamen meine Eltern für mich gewählt hatten, und auch zwei kleine Kinder, entkamen diesem grausamen Schicksal nicht. Der Vater meiner Mutter, mein Großvater, starb in Dachau, weil sich sein Sohn den Partisanen angeschlossen hatte. Vera und ich kannten keinen Krieg, doch konnten wir die Unruhe und die Angst meiner Eltern vor einem neuen Krieg nachempfinden.
Es herrschte eine bedrückende Atmosphäre, nicht nur in meinem Elternhaus, sondern in der ganzen Stadt. Menschen hatten Angst, dass uns das Gleiche passieren könnte wie den Tschechen, dass man unser Land auch überfallen und uns unserer Freiheit berauben würde. Das alles geschah kurz vor meinem Abreisetermin. Ich sollte am 30. August meinen Zug in Richtung Österreich besteigen.
Dann brachten die Zeitungen Nachrichten, die mich persönlich betrafen. Der Präsident Tito ließ unsere Grenzen durch die Armee schützen. Auf keinen Fall sollten wir das Schicksal der Tschechoslowakei teilen. Die Grenzen unseres Landes wurden „abgeriegelt“, was bedeutete, es gab keine Einreise und keine Ausreise mehr. Ausnahmslos. Mich erfasste eine große Unruhe. Die Angst davor, niemals ins Ausland reisen zu können und für alle Zeiten hier ‚gefangen’ zu sein, überwog alles andere. Die Menschen beteten für den Frieden, für die Sicherheit unseres Landes. Ich verzog mich in ein abgelegenes Zimmer unseres Hauses und betete, Gott möge für mich die Grenzen wieder öffnen. Ich kann mich heute nicht mehr in die Gefühlswelt dieses Mädchens hineinversetzen, dieser Arleta von damals, die in solchen tragischen Momenten hauptsächlich an sich und ihr Wohlergehen gedacht hatte. Dann aber kommt mir in den Sinn, dass dies vielleicht eine Antwort auf die vielen offenen Fragen sein könnte. Man sagt, für alles im Leben muss man bezahlen, auch wenn man Fehler in der Vergangenheit nicht bewusst begangen, jemanden nicht mit Absicht verletzt hat. Wenn das so ist, dann habe ich für meine Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit teuer bezahlt. Auch für den Kummer, den ich meiner Familie bereitet hatte.
Zu der Zeit aber sorgte ich mich hauptsächlich, ob und wann ich endlich aufbrechen könnte. Ich hatte Glück. Die Grenzen wurden rechtzeitig wieder geöffnet.
Ich verabschiedete mich von meiner Freundin Edina, mit dem Versprechen, ich würde sie nie vergessen und wäre ohnehin in einem Jahr wieder zurück.
Ich ging durch unser Haus und sah mir alles genau an, all die Gegenstände, denen ich vorher nie besonders viel Beachtung geschenkt hatte. In diesen letzten Momenten zu Hause wurde mein Herz doch schwer. Nur der Gedanke, dass ich wieder zurückkehren würde, ließ es mich leichter ertragen.
Vera fuhr bis nach Slowenien mit, zu unseren Verwandten mütterlicherseits, die dort lebten.
Von meiner Mutter verabschiedete ich mich im Hof unseres Hauses. Sie stand still da, ohne Tränen, an den Stufen unserer Veranda, schattig umrahmt, rechts vom Linden- und links vom Walnussbaum.
Es war ein strahlender Sommertag, einer jener Tage, an welchen wir normalerweise zum Baden an den Donaukanal fuhren, oder einen Fahrradausflug durch die Dörfer mit den vielen Bauernhöfen unternahmen. Doch dieser Tag war anders. Mutters versteinerte Miene blieb in meiner Erinnerung für immer haften. Da es damals keine Taxis gab, brachte uns mein Vater in einer gemieteten Pferdekutsche zum Bahnhof. Die Tränen liefen ihm das Gesicht hinunter; sein Gesichtsausdruck verriet Betroffenheit, eine tiefe Traurigkeit. Ich sah aus dem Zugfenster und winkte, bis er meinen Blicken entschwunden war.
So fuhr ich davon, voll der schönsten Träume und Illusionen – nicht für ein Jahr, wie versprochen, sondern für immer.