Passend zur Jahreszeit: Opas verdammte Weihnachtesgeschichte

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williwu
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Registriert: Mi 18. Mai 2011, 01:11

Passend zur Jahreszeit: Opas verdammte Weihnachtesgeschichte

Beitrag von williwu »

Opas verdammte Weihnachtsgeschichte

Es war wie jedes Jahr zu Weihnachten. Die Geschenke lagen schön aufgestapelt unterm Weihnachtsbaum, bunt eingepackt und mit viel Schleifen und Bändern drumherum. Wie jedes Jahr hatte Alina auf der kleinen Blockflöte ein Lied vorgespielt, Mama hatte sie auf der großen begleitet, und der Rest der Familie bekam eine Gänsehaut von dem Geflöte. Nicht, weil es so schön gewesen war, sondern weil es klang, als ob jemand mit den Fingernägeln über eine Schultafel kratzte.

Jannis hatte dann ein Gedicht aufgesagt. „Markt und Straßen stehn verlassen, ...“ Vier ganze Strophen, und Mama hatte natürlich gleich dazwischen geredet, als er „hell erleuchtet“ sagte, wo es doch „still erleuchtet“ heißen musste. Aber bei den nächsten Aussetzern hatte sie dann gütig die Augen zugemacht und das restliche Gestammel still erduldet, wahrscheinlich war sie hell erleuchtet, dass das Gedicht sonst nie zu Ende käme.

Ein Lied musste natürlich auch gesungen werden, sie hatten sich schnell auf „Ihr Kinderlein kommet“ geeinigt, weil bei „Stille Nacht“ bereits bei der Stelle „alles schläft, einsam wacht“ die Gefahr bestand, dass die Nachbarn die Polizei wegen Gesangsterrorismus holten.

Schließlich sollte Opa die Weihnachtsgeschichte vorlesen.
„Vadder, wo hast du die Bibel?“, fragte Mama, als es soweit war.
„Doris, Kind, ich hab die verdammte Bibel nicht.“
„Musst du immer fluchen? Sie stand doch immer hier im Bücherregal, seit Jahren steht sie hier ...“
„Lass doch die Bibel, ich lese seit Jahr und Tag die verdammte Weihnachtsgeschichte, glaubst du, ich kann sie nicht auch so erzählen?“
Also setzte Mama sich neben Papa, der ungefähr so aussah wie Jannis, also wie ein Stück Metall, das der magnetischen Anziehungskraft der Geschenke unterm Baum kaum noch widerstehen konnte. Jannis und Alina saßen auf dem Fußboden und Opa in seinem Fernsehsessel. Er setzte sich die Brille auf, was ziemlich albern war, da er ja keine Bibel zum lesen hatte.

„Also, hört gut zu. Das ist die Geschichte von der Geburt Jesu. Es war einmal ein Kaiser ...“
„Vadder, das ist doch kein Märchen.“
„Ruhe jetzt, verdammt noch mal.“
„Vadder!“
„Wenn ich aber auch immer unterbrochen werde. Also, der Kaiser wollte alle Menschen in seinem Reich zählen, das interessierte ihn einfach mal, wie viele Menschen da so lebten. Nicht selbst zählen, dafür hat so ein Kaiser ja seine Leute. Sein Reich war nämlich verdammt groß. Also, nicht so groß, wie er dachte, denn damals waren ja Australien und China und Japan und Amerika noch nicht entdeckt, und da lebten ja auch schon Indianer, in Amerika, meine ich.“
„Indianer“, stöhnte Mama.
„Scht!“ Opa wollte keine Unterbrechung mehr dulden. „Man denkt ja, die heißen Indianer, weil Kolumbus dachte, er hätte Indien entdeckt. Aber das stimmt nicht. Denn damals sagte man zu Indien gar nicht Indien, sondern Hindustan. Also müssten die Indianer Hindus heißen. Nee, das war so, Kolumbus hatte dem König geschrieben, die Einwohner Amerikas, also das Land hieß ja noch gar nicht Amerika, denn erst als Amerigo Vespucci ...“
Opa unterbrach sich, als ein lauter Schnarcher von Papa zu hören war, gefolgt von einem „Aua!“, weil Mama ihm einen Rippenstoß mit dem spitzen Ellenbogen gab.
„Äh, Amerika, Vesputschi, äh, das führt jetzt zu weit.“
Mama nickte laut und deutlich.
„Kolumbus“, fuhr Opa fort, während ein leises Schluchzen bei Mama einsetzte, „der hatte die Indianer, also die, die nicht so hießen, nämlich ein Volk in Gott genannt, gentre en dio. Daraus wurde Indio und schließlich Indianer. Also eigentlich ein sehr schöner Name, Volk in Gott.“
„Und keiner davon wurde gezählt ...“, murmelte Mama.
„Nein, natürlich nicht, sag ich doch. Augustus, so hieß der Kaiser, er war übrigens der erste Kaiser der Welt. Also damals war das Wort für Kaiser noch Cäsar, aber Cäsar war ursprünglich ein Name, deshalb war Cäsar selbst kein Kaiser. Davon leitet man auch das russische Wort Zar für Kaiser ab. Nur das japanische Tenno, das hat damit nichts zu tun. Ich weiß jetzt gerade nicht, ob es den Tenno schon gab, als Augustus regierte ...“ Opa legte sein Kinn in die Hand und grübelte ein bisschen.
Mama hatte die Hände vor die Augen geschlagen, darunter machte ihr Mund eine Bewegung, so als ob sie „tennotennotennotenno ...“ murmelte. Aber es kann auch „Mennomennomenno ...“ gewesen sein.

„Ist egal, Augustus wusste ja nichts vom Tenno, ob es ihn nun gab oder nicht. Er hielt es also für eine verdammt gute Idee, mal alle Leute zu zählen, die so in seinem großen Reich herumliefen. Und das war das Problem. Sie liefen herum und standen nicht still. Das ist verdammt noch mal gar nicht so einfach, ein Volk zu zählen, wenn es nicht still steht. Die konnten ja nicht aufhören zu arbeiten. Oder wenigstens mal aufs Klo zu gehen, und dabei wollten sie bestimmt nicht gezählt werden. Diese ganze Zählerei dauerte nämlich verdammt lange. Und dann starben ja auch immer welche zwischendrin. Und nun stellt euch vor, die haben gerade jemanden gezählt, und der stirbt dann, bevor sie mit zählen fertig sind. Dann müssen sie ja wieder von vorne anfangen. Darum haben sie das anders gemacht. Also erstens haben sie entschieden, dass sie nur die erwachsenen Männer zählen. Das war auch ganz klug, denn Frauen und Kinder gehörten immer zu irgendeinem Mann. Entweder zum Ehemann und Vater oder nur zum Vater oder auch zum Großvater ...“
Mama stand auf und ging in die Küche.
„Aber Doris, musst du jetzt nach dem verdammten Braten sehen? Das zerstört doch die Stimmung. Alina, wach auf, das ist doch keine Gutenachtgeschichte ...“
„Au!“ Durch Mamas Weggang fehlte Papa das natürliche Anlehnpolster. Deshalb war er schlafend umgekippt und mit dem Kopf auf den Holzrand der Couch geknallt. Jetzt saß er da und rieb sich den Kopf, es war nicht ganz klar, ob er wusste, wo er war.
„Was? Was ist denn ...? Opa war aus dem Konzept gebracht. Draußen dämmerte es bereits, und auch Opa dämmerte es langsam, dass die Weihnachtsgeschichte nicht die Weltgeschichte war.
„Also, Josef musste nach Bethlehem, fand dort keine Herberge und schlief in einer Krippe. Dort bekam er dann Jesus. Als Baby. Ich meine, Maria, die war auch mit, und die bekam das Baby, nämlich Jesus. Josef konnte ja kein Baby bekommen, weil er nämlich schon verdammt alt war, und alte Männer bekommen keine Babys. Alte Frauen auch nicht, jedenfalls nicht wenn alles mit rechten Dingen zugeht. Damals freuten sich alle. Na ja, der verdammte Herodes nicht, der ließ alle Babys abschlachten, aber die anderen freuten sich. Nur die Schäfer hatten Angst vor dem Stern. Das war kein Stern, sondern da standen Jupiter und Saturn in Konjunktion, das hat Kepler später ausgerechnet, es hätte auch eine Supernova sein können, aber die chinesischen Astronomen hatten nichts davon gesehen, und die waren schon verdammt gründlich damals und haben immer alles aufgeschrieben, aber keine Supernova zu der Zeit. Jedenfalls war es so hell, aber das tut auch gar nichts zur ... unddannsangensiealleundjubeltendoriskommgibtjetztgeschenke.“

Es wurde dann doch noch ein schönes Weihnachtsfest. Später am Abend ging Opa zum Bücherschrank und suchte etwas.
„Doris, wo ist eigentlich die Bibel, verdammt noch mal?“




Frohe Weihnachten und eine guten Rutsch wünsche ich schon mal!
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