Der Fremde

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rosurio
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Der Fremde

Beitrag von rosurio »

Hallo Ihr Leseratten!

Ich habe in meinem Fundus gekramt und noch eine Geschichte gefunden. Was haltet Ihr davon?


Der Fremde
Dezember war´s, der Frost klirrte mächtig. Soviel Eis und Schnee wie in jedem Jahr gab es selten.
Gar wunderlich war´s, in dieser Zeit durch den Wald zu wandern. Die tief verschneiten Bäume sahen aus wie verwunschene Riesen. Der Schnee lag so hoch, dass jeder Schritt ordentlich mühsam war.
Obwohl der Abend noch weit war, dämmerte es schon. Der kleine Peter glaubte fast das einzige Wesen auf Erden zu sein, so einsam und still war es hier im Wald. Kein Vogel rief, sogar die Hirsche und Rehe schienen zu schlafen. Der Schnee knirschte unter seinen Füssen, sonst war nichts zu hören.
Plötzlich vernahm der Junge eine Stimme neben sich.
?Na, so allein im dunklen Wald??
Peter schluckte den ersten Schrecken tapfer hinunter und sah auf. Wie aus dem Nichts war da ein junger Mann mit einer wohlig brennenden Laterne aufgetaucht und neben ihn getreten.
?Ich muss in die Stadt, gehen wir zusammen??, fuhr der Fremde fort, und Peter willigte freudig ein.
Eine Weile gingen die beiden schweigend nebeneinander her, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Was jedoch den Fremden bewegte, weiss ich nicht zu sagen. Peter jedenfalls kramte in seinem Gedächtnis, wo und wann er seinen Begleiter schon einmal gesehen hatte. Obschon er ihm merkwürdig bekannt dünkte, wollte es ihm nicht einfallen, und zu fragen getraute er sich nicht.
?Wohnst du in der Stadt??, begann der Fremde wieder, und der Junge gab bereitwillig Auskunft. Er erzählte von dem kleinen Häuschen, das er mit Mutter und Schwester bewohnte, von dem Kramladen, der ein bescheidenes Auskommen ermöglichte ? und vom Vater, an den er sich kaum mehr erinnern konnte.
Dann schwiegen die beiden wieder. Peter wollte nach dem Woher des Fremden fragen, aber es war seltsam: die Worte wollten ihm nicht über die Lippen.
Schüchtern musterte er seinen Begleiter. Woher kannte er ihn nur? Seine grosse schlanke Gestalt war in einen schwarzen Mantel gehüllt, der sicher schon bessere Tage gesehen hatte. Im flackernden Schein der Laterne entdeckte Peter viele Flicken und manches Loch im Stoff. Für die Hände hatte er dicke Fäustlinge, doch steckten die nackten Füsse des Fremden in einfachen Holzpantoffeln, und das in dieser Eiseskälte!
Das Gesicht des Mannes strahlte einen vornehmen Ernst aus, der so gar nicht zu seiner Kleidung passen wollte. Da musste Peter an den unglücklichen König Ludwig denken, der sein Schloss manchmal verliess, um sich unerkannt unter das Volk zu mischen.
Doch konnte dies der König sein? Noch einmal sah der Junge zu ihm auf. Nein, der König war es nicht. Der hatte keinen so langen Bart, jedenfalls nicht auf den Münzen, von denen Peter ihn kannte.
Endlich hielt er es nicht mehr aus.
?Wer seid Ihr denn??, fasste er sich ein Herz.
Schon wollte er seine Frage wiederholen, da sprach der Fremde mit unendlich trauriger Stimme: ?So kennst auch du mich nicht.?
Der Schreck fuhr Peter so in die Glieder, dass er stehenbleiben musste: ?Ihr ... Ihr seid der König??
So sicher war er nun, dass ihm wirr wurde, als der Mann antwortete: ?Wenn du Ludwig II. meinst, der bin ich nicht.?
?Aber wer ...?, begann der Junge, doch dann besann er sich und sprach nicht weiter. So traurig blickten die Augen des Fremden auf ihn, dass ihm das Herz im Leibe fast zerspringen wollte.
So schwiegen die beiden wieder, bis sie die verschneiten Häuser der Stadt im Tal erreicht hatten. Ein kleines Stück gingen sie noch zusammen, bis der Fremde stehen blieb: ?So, hier trennen sich unsere Wege. Ich will sehen, ob der Bischof ein Nachtlager für mich hat.?
Peter kannte den alten Kirchenfürsten zu gut um zu wissen, dass der ganz gewiss niemandem sein Dach umsonst anbieten würde, schon gar nicht einem Fremden. Und dass sein Begleiter auch nur einen Heller besitzen könnte, das konnte sich der Junge beim besten Willen nicht denken.
?Kommt doch lieber mit zu uns nach Hause! Wir haben zwar nicht viel, aber für einen mehr reicht es immer!?, bot er ihm daher an.
Lächelnd fuhr im der junge Mann über den Kopf und lehnte ab.
?Er wird mich nicht abweisen, sondern sich um Gotteslohn meiner erbarmen.?
Und damit schlug er den Weg zum Schloss ein, das der Bischof bewohnte.
Heute abend standen viele Kutschen im gepflegten Hof, alle Fenster waren hell erleuchtet, Lachen und übermütige Musik klang auf die dunkle Strasse hinaus.
Der Fremde löschte seine Laterne und trat ein. Mit ungläubigem Staunen in den Augen sah er sich um: Er stand an der Tür zu einem weiten Saal. Grosse Fackeln, die in eisernen Haltern an den Wänden brannten, erhellten den Raum fast taghell. Viele Menschen eilten mit silbernen Tabletts in den Händen hin und her, um die Wenigen zu bedienen, die in kleinen Gruppen standen und sich unterhielten.
Schon setzte der junge Mann einen Fuss vor den anderen, da hielt ihn eine barsche Stimme zurück.
?He da, raus mit dir! Lumpengesindel!?
Es war offenbar der Hausherr selbst, der ihn da so unwirsch angesprochen hatte.
Die traurigen Augen des Fremden hielten dem zornsprühenden Blick des Kirchenfürsten stand. Mit fester Stimme vermochte er um ein Nachtlager und Weniges zu essen bitten.
Da packte ihn der Bischof unsanft am Ärmel und zerrte ihn in die Mitte des Saales. Die vielen halblauten Gespräche ringsumher verstummten, als er mit dröhnendem Bass rief: ?Seht, welch hoher Besuch heute in unserer Mitte weilt!?
Schallendes Gelächter war die Antwort.
?Ein Nachtlager wünscht der Herr!?, fuhr der Bischof mit hohntriefender Stimme fort. Seine Gäste musterten den Fremden kopfschüttelnd.
Einer der Umstehenden rief lachend: ?Wenn er bezahlen kann, findet sich hier ein Platz sogar für den Teufel!?
?Dies kann der Teufel nicht sein, der kommt nicht so abgerissen daher!?, widersprach ein Anderer.
?Kommt er wie Ihr in Samt und Seide??, erwiderte der Fremde mit leiser Stimme.
Da packte und schüttelte ihn der Bischof wieder, der Mantel riss entzwei.
?Willst noch frech werden, Bürschchen? Meine Gäste beleidigen? Weißt wohl nicht, wen du vor dir hast??
?Das weiss ich wohl, mein Herr ? der Bischof bist du!?
Den Menschen im Saal stockte der Atem. Wer war dieser Mann, der es wagte, dem Kirchenfürsten in einem solchen Ton zu antworten?
Für einen langen Augenblick war es so still, dass man die brennenden Holzfackeln knistern hören konnte. Dann jedoch polterte der Hausherr los: ?Hat man je eine solche Frechheit gehört? Dich werde ich Achtung vor deinem Herrn lehren!?
Und damit schüttelte er den Eindringling so heftig, dass ihm der Mantel in Fetzen vom Leibe hing.
?So, und nun mach dich fort, sonst lasse ich die Hunde los!?
Mit diesen Worten schleuderte er ihn schliesslich von sich.
Einer der Umstehenden fing den Taumelnden auf. Der Schalk blitzte ihm in den Augen, als er sich an den Gastgeber wandte: ?Seht, draussen heult der Sturm. Hoher Herr, so könnt Ihr unseren Freund nicht gehen lassen! Wollen wir ihm doch wenigstens etwas von unserer Tafel geben!?
Sofort verstand der Bischof die Absicht. Wiederum griff er ihn am Kragen und riss ihn zu Boden. Sogleich eilte einer der hohen Gäste mit irdenen Näpfen herbei. Ihm auf dem Fusse folgten die grimmig knurrenden Hunde des Schlosses, denn ihr Futter war es, das dem Fremden kredenzt werden sollte.
Ein scharfer Ton des Hausherrn, und die Tiere liessen sich, zwar immer noch knurrend, zu seinen Füssen nieder.
?Und nun friss, du Hund!?, spotteten der Fürst und seine Gäste.
Und wirklich wollte der Fremde nach einem der abgenagten Knochen greifen. Doch schon stürzten die Hunde von der Seite des Bischofs und jagten den Fremden zur allgemeinen Belustigung hinaus ins Schneegestöber.
Der junge Mann taumelte wie ein Betrunkener von Hauswand zu Hauswand und verschwand schliesslich in der Dunkelheit.
So kam er schliesslich ans andere Ende der Stadt, wo ein kleiner Krämerladen stand. Hier waren die Fenster längst schon dunkel. Doch wie durch ein Wunder wurde nun drinnen eine Lampe entzündet, und der kleine Peter blickte nach draussen.
Sofort erkannte er die zerlumpte Gestalt im Schnee als seinen geheimnisvollen Begleiter. Ohne zu überlegen, eilte der Junge im Nachtgewand zur Tür, um ihn einzulassen.
Schwer stützte sich der Fremde auf das Kind, und dem schien für einen aberwitzigen Moment, als trüge es die ganze Welt auf den Schultern. Die beiden bemühten sich, Mutter und Schwester nicht zu stören, doch hatte die Mutter einen leichten Schlaf.
Äusserlich eine imposante Erscheinung, war sie im Grunde doch eine herzensgute Frau, die kein Wesen, ob Mensch oder Tier, leiden sehen konnte. So bedurfte es nicht vieler Worte, dass die Mutter ihre wohl verdiente Nachtruhe vergass. Sie bereitete dem Fremden aus dem Wenigen, das in der Küche zu finden war, ein Essen. Dazu stellte sie ihm den Krug Bier, den die Schwester für den Sonntag im Kloster erstanden hatte.
?Nächtigen könnt Ihr in Peters Kammer?, erwähnte sie beiläufig, indem sie sich zu ihm setzte. Der Fremde hob den Blick gen Himmel, der Frau schien es einen Augenblick, als weile er in unwirklichen Fernen. Schliesslich richtete sich ein warmes Augenpaar auf sie.
?Es wird nicht unbelohnt bleiben, was Ihr für mich tut?, antwortete der Fremde fast ebenso beiläufig.
Am nächsten Morgen war er fort, nur ein Ledersäckchen lag auf dem Tisch in der Stube. Als Peter es aufnahm, war es leer. Er verwahrte es in einer Schachtel.

Viele Jahre gingen ins Land. Längst war der Bischof gestorben, Peters Mutter und Schwester. Auch Peter sah sein Ende kommen, seit Wochen konnte er das Bett nicht mehr verlassen. So rief er Martin, seinen ältesten Sohn, zu sich und vertraute ihm eine Schachtel an, gefüllt mit den Schätzen seines Lebens. Es schien, als habe der Sensenmann nur darauf gewartet, denn wenige Stunden darauf tat der Alte seinen letzten Atemzug.
Nun gehörte Martin der kleine Krämerladen ? und wahrlich, er wollte ein besseres Leben als seine Eltern haben! Doch waren die ersten Jahre schwer, und dann kam der Krieg.
Am letzten Abend daheim fiel Martin die Schachtel seines Vaters in die Hände. Er öffnete sie mit dem Vorsatz einen Gegenstand zu finden, den er als Glücksbringer ins Feld mitnehmen könnte. Mehr einer inneren Eingebung als seinem Verstand folgte er, als er sich für ein kleines Ledersäckchen entschied.
Martin war einer der Wenigen, die der Hölle von Verdun entrannen.
Aber obschon Überlebender, stand er als Deutscher auf der Verliererseite. Ja, das Deutsche Reich hatte diesen Krieg, den es weder begann noch wollte, verloren.
Martin war einer der, die das ewige Verlieren endgültig satt hatten.
Er war einer der ersten, die einem Mann folgten, der versprach, dem Deutschen Reich wieder den Platz in der Welt zu verschaffen, der ihm zustand. Dass es nicht ohne Blutvergiessen abgehen konnte, war jedem klar, aber sie gedachten voll Zorn an Verdun und an das Bibelwort ?Auge um Auge, Zahn um Zahn?.
So waren es mehr aufgewühlte Emotionen als kühler Verstande, die einen weiteren Krieg entfesselten, der das Deutsche Reich nicht gross, sondern unendlich klein machen sollte.
Doch diesmal war Martin auf der Gewinnerseite. Mochte zwar alles um ihn herum darben, mochte zwar sein kaum halbwüchsiger Sohn in den letzten Kriegswirren verschollen sein ? diesmal war er auf der Gewinnerseite. Es war der Schwarzmarkt, auf dem er sich in den ersten schrecklichen Friedensjahren auf Kosten seiner Mitmenschen sanierte. Bei all seinem Tun und Lassen trieb ihn nur der eine Gedanke: Er wollte ein besseres Leben als seine Eltern!
Und wirklich, bald machte das armselige Häuschen einer Villa Platz, die dem einstigen Schloss des Bischofs in nichts nachstand.
Nun war Martin der reichste Mann der Stadt, jeder wollte ihn zum Freund, um von seinem Ansehen zu profitieren.
Was Martin auch anfing, es gelang ihm. Jedoch etwa nicht, weil er besonders geschickt oder umgänglich war ? nein, das Gegenteil war der Fall: Ein jeder fürchtete sich vor diesem mächtigen Mann und las ihm darum jeden Wunsch von den Augen ab.
So blieb es nicht aus, dass Martin das Amt des Bürgermeisters angetragen wurde, und natürlich nahm er an. Heute abend sollte sein Wahlsieg gefeiert werden.
Dezember war´s, der Frost klirrte mächtig. Soviel Eis und Schnee wie in jedem Jahr gab es selten.
Gar wunderlich war´s, in dieser Zeit durch den Wald zu wandern. Die tief verschneiten Bäume sahen aus wie verwunschene Riesen. Der Schnee lag so hoch, dass jeder Schritt ordentlich mühsam war.
Obwohl der Abend noch weit war, dämmerte es schon. Der kleine Dominic glaubte fast das einzige Wesen auf Erden zu sein, so einsam und still war es hier im Wald. Kein Vogel rief, sogar die Hirsche und Rehe schienen zu schlafen. Der Schnee knirschte unter seinen Füssen, sonst war nichts zu hören.
Plötzlich vernahm der Junge eine Stimme neben sich.
?Na, so allein im dunklen Wald??
Dominic schluckte den ersten Schrecken tapfer hinunter und sah auf. Wie aus dem Nichts war da ein junger Mann mit einer wohlig brennenden Lampe aufgetaucht und neben ihn getreten.
?Ich muss in die Stadt, gehen wir zusammen??, fuhr der Fremde fort, und Dominic willigte freudig ein.
Eine Weile gingen die beiden schweigend nebeneinander her, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Was jedoch den Fremden bewegte, weiss ich nicht zu sagen. Dominic jedenfalls kramte in seinem Gedächtnis, wo und wann er seinen Begleiter schon einmal gesehen hatte. Obschon er ihm merkwürdig bekannt dünkte, wollte es ihm nicht einfallen, und zu fragen getraute er sich nicht.
?Wohnst du in der Stadt??, begann der Fremde wieder, und der Junge gab bereitwillig Auskunft. Er erzählte von dem kleinen Häuschen, das er mit Mutter und Schwester bewohnte, von dem Kramladen, der ein bescheidenes Auskommen ermöglichte ? und vom Vater, an den er sich kaum mehr erinnern konnte.
Dann schwiegen die beiden wieder. Dominic wollte nach dem Woher des Fremden fragen, aber es war seltsam: die Worte wollten ihm nicht über die Lippen.
Schüchtern musterte er seinen Begleiter. Woher kannte er ihn nur? Seine grosse schlanke Gestalt war in einen schwarzen Mantel gehüllt, der sicher schon bessere Tage gesehen hatte. Im flackernden Schein der Taschenlampe entdeckte Dominic viele Flicken und manches Loch im Stoff. Für die Hände hatte er dicke Fäustlinge, doch steckten die nackten Füsse des Fremden in einfachen Holzpantoffeln, und das in dieser Eiseskälte!
Das Gesicht des Mannes strahlte einen vornehmen Ernst aus, der so gar nicht zu seiner Kleidung passen wollte.
Endlich hielt er es nicht mehr aus.
?Wer sind Sie denn??, fasste er sich ein Herz.
Schon wollte er seine Frage wiederholen, da sprach der Fremde mit unendlich trauriger Stimme: ?So kennst auch du mich nicht.?
?Aber wer ...?, begann der Junge, doch dann besann er sich und sprach nicht weiter. So traurig blickten die Augen des Fremden auf ihn, dass ihm das Herz im Leibe fast zerspringen wollte.
So schwiegen die beiden wieder, bis sie die verschneiten Häuser der Stadt im Tal erreicht hatten.
?Ob dein Vater wohl ein Nachtlager für mich hat??
Dominic sah auf.
?Natürlich! Er hilft immer anderen Menschen, darum ist er auch Bürgermeister!?, war er überzeugt und zog den Fremden mit sich.
Heute abend standen viele Automobile im gepflegten Hof, alle Fenster waren hell erleuchtet, Lachen und übermütige Musik klang auf die dunkle Strasse hinaus.
Der Fremde löschte seine Taschenlampe und trat ein. Mit ungläubigem Staunen in den Augen sah er sich um: Er stand an der Tür zu einem weiten Saal. Kristallene Leuchter an der hohen Decke erhellten den Raum fast taghell. Viele Menschen eilten mit silbernen Tabletts in den Händen hin und her, um die Wenigen zu bedienen, die in kleinen Gruppen standen und sich unterhielten.
Schon setzte der junge Mann einen Fuss vor den anderen, da hielt ihn eine barsche Stimme zurück.
?He da, raus mit dir! Lumpengesindel!?
Es war offenbar der Hausherr selbst, der ihn da so unwirsch angesprochen hatte.
?Vater, diesen Mann habe ich mitgebracht!?, erklärte der kleine Dominic. ?Du hilfst doch immer anderen Menschen!?
Ein zornsprühender Blick traf den Jungen.
?Was fällt dir ein, dich um Dinge zu kümmern, die du noch nicht verstehst? Wie kommst du dazu, Bettlervolk in mein Haus zu bringen? Scher dich in dein Zimmer, wir sprechen uns noch!?
Schon wollte Dominic eingeschüchtert der Weisung seines Vaters nachkommen, da hielt ihn der Fremde zurück.?Dominic, du verstehst mehr als dein Vater glaubt. Ich wünsche, dass du bleibst.?
Der alte Martin schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Hochrot war sein Gesicht, und er griff sich ans Herz. Gäste und Diener eilten herbei.
Der Eindringling wurde kopfschüttelnd gemustert. Es musste einer schon besonders dreist sein, um als Fremder im Hause des Bürgermeisters bestimmen zu wollen!
Der junge Mann machte eben Anstalten Martins Kragen zu öffnen, um ihm Luft zu verschaffen. Doch da sprang der eben noch Besinnungslose auf und schlug seine Hände weg.
?Rühr mich nicht an, du Nichtsnutz! Und nun verlass´ mein Haus, bevor ich den Polizeimeister rufen lasse!?
Der Fremde lächelte.
?Gern werde ich dein Haus verlassen, wenn du mir mein Eigentum zurück gegeben hast, Bürgermeister!?
Schallendes Gelächter war die Antwort.
Der alte Martin packte ihn am Kragen und schüttelte ihn heftig.
?Willst du mich auch noch beleidigen? Hier ist nichts, was dir gehört! Und nun endlich hinaus mit dir!?
Doch es war seltsam ? irgend etwas im Blick des Fremden veranlasste den Hausherrn, dessen Mantel loszulassen.
?Erinnerst du dich an ein kleines Ledersäckchen, das ich einst deinem guten Vater gab? Dieses zu holen, bin ich gekommen.?
Ledersäckchen?
Martin erinnerte sich an den Gegenstand, den er als Glücksbringer ins Feld mitgenommen hatte. Und er dachte an ein langes Gespräch, das er einst mit seinem Vater an dessen Sterbelager führte. Damals erzählte ihm der Alte die wunderliche Geschichte dieses Ledersäckchens.
Seine Worte klangen ihm noch im Ohr: ?Hate es in Ehren, dann wird es dich beschützen und dir Glück bringen. Sei gut zu allem Lebenden, sonst wird es dir genommen ... und du endest in Armut und Elend.?
Nein, in Armut wollte Martin gewiss nicht enden! Das Säckchen musste er behalten!
Er strich seinem Sohn übers Haar.
?Verzeih, ich war eben ungehalten. Natürlich darfst du bleiben, solange du willst!?
Und zu dem Fremden gewandt, sprach er mit niedergeschlagenem Blick: ?Bitte verzeihen auch Sie mein unhöfliches Benehmen. Ich wäre glücklich, wenn Sie mein Gast sein wollten!?
Die Augen des Fremden verhiessen Zustimmung, Martin atmete erleichtert auf und bat zu Tisch.
Eilends hatte man ein weiteres Gedeck neben dem des Hausherrn aufgelegt. Dessen hohen Gästen verwunderte der plötzliche Stimmungswandel des Bürgermeisters, und dabei wusste man noch nicht einmal den Namen dieses Menschen! Doch ihn zu fragen wagte keiner.
Und noch mehr staunten sie, als er sich sogar beim Essen seiner dicken Fäustlinge nicht entledigte. Einer fasste sich schliesslich beim Dessert ein Herz und sprach ihn an.
?Verzeihen Sie, hoher Herr ...?
Da unterbrach ihn dieser: ?Ein hoher Herr war ich nie. Ich bin der Niedrigste der Niedrigen.?
?Trotzdem muss ich Ihre Verzeihung erbitten. Ich überhörte vorhin wohl Ihren Namen ...?
Der Fremde lächelte.
?Überhörten Sie etwas, was nie erwähnt wurde??
Er sah in die Runde.
?Jeder hier ahnt es, doch niemand wagt es auszusprechen. ? So sei es denn: Ich bin es, Jesus, genannt Der Christus!?
Ein Raunen ging durch den Saal, der Fremde zog seine Fäustlinge aus ? und wirklich, da war eine Wunde in jeder seiner Handflächen.
Alle sprangen auf und umringten ihn.
Und Der Christus hob an zu sprechen.
?Ich kam einst in die Welt, um meine Botschaft zu verkünden. Doch die Menschen töteten mich lieber, als dass sie nach ihr zu leben wenigstens versuchten. Ein kleiner Kreis nur war es, der dies auf sich nahm. Doch warum hielten sie mir die Treue nur, solange sie in meinem Namen verfolgt wurden? Als sie anerkannt waren, leugneten sie mich. Petrus verleugnete mich dreimal ? sie aber tausende Male. Petrus verleugnete mich aus Angst, Todesangst ? sie aber aus purer Machtgier.
Gemessen an eurer Zeitrechnung sah ich diesem Treiben lange zu, obwohl alle meine Engel dem Ganzen schnell ein Ende setzen wollten. Und noch immer halte ich daran fest, und kam nochmals in diese Welt. Und wirklich traf ich gute Menschen, die meine Überzeugung bestätigten. Ihnen gab ich ein Ledersäckchen zum Zeichen, dass sie meine Botschaft leben.
Doch nun sehe ich, dass schon die Gelegenheit zur Macht euch Menschen niedrig macht ? so wie sie dich niedrig machte, lieber Martin. Darum fordere ich nun noch einmal mein Eigentum zurück. Denn nichts von mir oder denen, die mir nachfolgen, soll auf dieser Erde sein, wenn meine Engel diese Schöpfung auslöschen, um noch einmal neu zu beginnen.?
Totenstille war im prächtigen Saal. Schliesslich zupfte der kleine Dominic Den Christus am Ärmel und blickte ihm flehend in die Augen. Zu sprechen vermochte er nicht, zu dick war der Kloss im Hals.
Aber auch ohne Worte wurde der Junge verstanden.
?Doch weil dieses unschuldige Kind für euch bat, sei euch eine letzte Frist gewährt. Sie wird noch einmal tausend Erdenjahre währen ...?
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