Grenzerfahrungen

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bulbuster
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Grenzerfahrungen

Beitrag von bulbuster »

Grenzerfahrung Berlin Mitte als 15 Jähriger Schüler der 8. Klasse POS:
Die S-Bahn Richtung Bahnhof Zoo, in der die bereits kontrollierten und für reisewürdig befundenen Menschen saßen um in das NSA, das „Nicht Sozialistische Ausland“, also in diesem Fall nach Westberlin zu reisen, fuhr dann über die Brücke am ehemaligen Schiffbauerdamm. Die Strecke führte kurvig weiter, neigte sich zudem stark nach rechts und die Geschwindigkeit wurde auf Schritttempo heruntergefahren. Auf einer Signalanlage mit Laufsteg stand ein Postenhaus, in dem zwei Grenzsoldaten die Gleise beobachteten, aber bei Nebel konnten die, trotz ihrer Ferngläser, nicht allzu weit sehen. Die Hoftür durfte man nur mit einem kräftigen Stoß öffnen, sonst quietschte sie ziemlich laut. In der Aufregung hatte Norbert das vergessen und so gab es beim Verlassen des Hofes etwas Lärm, der bestimmt nicht unbemerkt geblieben war. Richtig problematisch gestaltete sich der Leitertransport. Wir wollten in dem Hausflur kein Licht machen und im Dunkeln mit der Leiter nirgendwo anzuecken war schwierig. Die Zeit wurde knapp, aber wir schafften es. Im Laufschritt hetzten wir mit der schweren Holzleiter bis zu unserem Hausflur. Die Hoftür quietschte so furchtbar, dass ich dachte, das ganze Haus wacht auf. Nun gab es kein Zurück. Es machte auch keinen Sinn mehr Geräusche zu vermeiden. Ich richtete die Leiter auf und es zeigte sich, dass sie zu kurz war. Da stand ich nun mit offenem Mund, die Leiter hilflos in beiden Händen haltend, schaute ungläubig vom Ende der Leiter zum Stalinrasen hinauf und war wie gelähmt, vollkommen unfähig etwas zu tun. Das einzige was mir einfiel, war die Leiter anzuheben, um dann festzustellen, dass nur 40-50 cm fehlten.. Das war`s, wollte ich gerade zu Norbert sagen, doch der bugsierte bereits, leider auch nicht besonders geräuscharm, eine Mülltonne in die Hofecke und klappte den Deckel auf. Sie war randvoll. Gemeinsam hoben wir die Leiter in die Tonne. Eine recht wacklige Angelegenheit. Dann rückten wir die Tonne so zurecht, dass die Leiter am Stalinrasen anlag….An der Hauswand vorbei konnten wir die Kurve Richtung Bahnhof Friedrichstraße einsehen. Viel zu sehen war da witterungsbedingt nicht. Wenn wir anstatt nur zum Bahnhof Friedrichstraße auch in die andere Richtung geschaut hätten, dann wäre uns die Doppelstreife der Transportpolizei, beide mit Maschinenpistolen bewaffnet, wohl eher aufgefallen. Es war Norbert der sie zuerst sah und ziemlich laut rief: Weg hier! Aber wohin? Zurück über den Zaun? Unmöglich! Also liefen wir in Richtung S-Bahnhof und damit leider auch auf die Signalanlage mit dem Postenhaus in dem sich die Grenzsoldaten befanden zu, immer an der Brandmauer des Hauses entlang. Von rechts kam die Transportpolizei, die ihre Kalaschnikows inzwischen von den Schultern genommen hatten und auf uns zu rannten. Halt, stehenbleiben! Riefen sie abwechselnd. Nun tat sich auch was in dem Postenhaus auf der Signalanlage. Auch von dort wurde nun „Stehenbleiben“ gerufen und dann krachte es mehrfach so laut, dass ich nicht mehr in der Lage war, mich zu rühren. Geschosse schlugen in die Hauswand ein und der Putz flog mir in die Haare und in den Nacken.
Vorstehender Fluchtversuch endete in der UHA II, Berlin Keibelstraße

Und was möchte ich nun als Autor gerne diskutieren?
Ist es Erinnerungskultur, ehemalige Gefangene von den Stätten ihrer Haft fern zu halten?

Erst eingesperrt, dann Ausgesperrt
Auszug aus einem Offener Brief an Frau Birgit Marzinka, Leiterin "Lernort Keibelstraße"
Agentur für Bildung - Geschichte, Politik und Medien e.V., Dieffenbachstraße 76, 10967 Berlin:

Guten Tag Frau Gefängnisdiretrice!

Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie hat entschieden, der Agentur für Bildung - Geschichte, Politik und Medien e.V. und damit Ihnen, als deren Leiterin, die ehemalige UHA II des MdI Keibelstraße anzuvertrauen. Lernen aus der Geschichte sollte dort praktiziert werden.
Vor über 9 Monaten habe ich bei Ihnen angefragt, ob es vielleicht möglich wäre, dort, am historischen Ort, mal eine Lesung aus meinem Buch „Grenzterror“ zu halten, in dem ich u.a. auch meinen Aufenthalt in der Keibelstraße 1972 beschreibe. Es erging ein ablehnender Bescheid.
Was lerne ich aus dieser Geschichte?
Sie, Frau Marzinka, verdienen recht gut daran, dass Gefangene in der Keibelstraße gelitten haben und Sie setzen die Tradition dieses Ortes würdig fort, indem Sie auch heute noch Menschen quälen. Warten, das ist im Gefängnis (und nicht nur dort) immer quälend. Mich 9 Monate auf eine zweizeilige Absage warten zu lassen, zeugt von einer zweifelhaften Vortrefflichkeit Ihrer Person. Ihnen fehlt es an Einfühlungsvermögen und die Kompetenz, die UHA II historisch korrekt darzustellen, spreche ich Ihnen auch ab. Nicht einmal an dem Keibelstraßenlied „Es steht ein Haus in Ostberlin, ein Haus weit ab vom Recht….“ Zeigten Sie Interesse.
In meinen Augen sind Sie eine subalterne Erinnerungskulturgewinnlerin, die nichts so sehr fürchtet, als mit Ohren- und Augenzeugen der damaligen Zeit konfrontiert zu werden. Denn dann müssten Sie zugeben, dass Sie eigentlich nichts wissen.

Unterschrift verweigert!
bulbuster
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Re: Grenzerfahrungen

Beitrag von bulbuster »

Natürlich gab es keine Antwort der Gefängnisdirektrice. Ich hätte mir gerne die Keibelstraße "erschlossen", andererseits war ich dort ja nur recht kurz. In Hohenschönhausen deutlich länger. So erschloss ich mir also Hohenschönhausen und zitiere aus dem Vorwort meines Grenzterrors...

„Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur ein einziges Mal gegeben, und nutzen soll man es so, dass einen die Schande einer niederträchtigen und kleinlichen Vergangenheit nicht brennt, und dass man sterbend sagen kann: Mein ganzes Leben, meine ganze Kraft habe ich dem Herrlichsten in der Welt, dem Kampf um die Befreiung der Menschheit gewidmet.“ Dieses Zitat von Nikolai Ostrowski bekam jeder „DDR-Geborene“ meiner Generation in rotem Einband und goldenem Staatswappen mit auf seinen Lebensweg. Von den 21 Jahren meiner „DDR“ Staatsbürgerschaft verbrachte ich 4½ Jahre in elf Gefängnissen. Ich habe mich während dieser Zeit nicht so sehr um „die Befreiung der Menschheit“ gekümmert. Mit nunmehr 59 Jahren stimme ich dem ersten Absatz des Zitats von Nicolai Ostrowski zu. Dem zweiten Teil des Zitates folge ich jedoch nicht. Ich bin kein Kämpfer, der sein Leben für die Befreiung der Menschheit einsetzt. Das ist mir zu groß. Ich möchte sterbend sagen können, dass ich, wenn auch zugegeben viel zu spät, mein ganzes Leben, meine ganze Kraft dem Herrlichsten in der Welt, der Suche nach Gott gewidmet habe. „Ihr werdet mich suchen und werdet mich finden. Denn wenn ihr mich von Herzen sucht, werde ich mich von euch finden lassen.

§ 101. (1) Wer es mit dem Ziel, Widerstand gegen die sozialistische Staats- oder Gesellschaftsordnung an der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu leisten oder hervorzurufen, unternimmt, Sprengungen durchzuführen, Brände zu legen, Zerstörungen herbeizuführen oder andere Gewaltakte zu begehen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren bestraft.
(2) In besonders schweren Fällen kann auf lebenslängliche Freiheitsstrafe oder Todesstrafe erkannt werden.
§§§§§§§§§§§§§§§§§§§§§§
§ 60. (1) Die Todesstrafe wird, soweit sie das Gesetz zuläßt, gegen Personen ausgesprochen, die besonders schwere Verbrechen begangen haben. Sie ist mit der dauernden Aberkennung aller staatsbürgerlichen Rechte verbunden und wird durch Erschießen vollstreckt. (2) Gegen Jugendliche wird die Todesstrafe nicht ausgesprochen. Gegen Frauen, die zur Zeit der Tat, der Verurteilung oder der Vollstreckung schwanger sind, sowie gegen Täter, die nach der Verurteilung geisteskrank geworden sind, wird die Todesstrafe nicht angewandt.“

https://www.youtube.com/playlist?list=P ... d-01qhgDHR
bulbuster
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Re: Grenzerfahrungen

Beitrag von bulbuster »

Was ich in meiner letzten Nacht im Stasiknast nicht wusste, Mielke verabschiedete mich mit einer Oiginalunterschrift. Die bekam ich über den BSTU erst vor wenigen Tagen. "Die letzte Nacht im Osten schlief kaum einer von uns. Nach dem Frühstück vergingen noch einmal drei Stunden und dann hörte ich das letzte Mal in einer Haftanstalt des MfS das Wort: Kommen Sie! Über zwei Treppen wurden wir in den Gefängnishof vor der Schleuse geführt. Ich hatte nur meine dünne Jacke an und fröstelte ein wenig. Der Himmel war bewölkt und die Temperatur betrug höchstens 12 Grad. Auf dem Hof stand bereits ein Bus von Magirus Deutz, älteren Baujahres. Das Fahrzeug hatte ein Ostkennzeichen. Wahrscheinlich war ich außer dem Agenten, der mir zuzwinkerte, als ich mir das Nummernschild einprägte, der Einzige, der darauf achtgab. Der Fahrer erklärte mir später in Gießen, wo sich am Bus seltsamerweise ein Westkennzeichen befand, dass ich das Ostnummernschild eigentlich gar nicht hätte sehen dürfen, weil es nach der Einfahrt in das Gefängnis über eine Hebelanlage umgedreht wird. Er hatte es vergessen und vom MfS war es auch übersehen worden. Irgendwann wird irgendetwas immer mal vergessen oder übersehen. Wesentlich moderner erschien mir dagegen der fette Mercedes Benz, der vor dem Bus stand. Er war so geparkt, dass ich die Kennzeichen nicht erkennen konnte. Daraus entstieg ein älterer Herr, im Lodenmantel, westlich gekleidet, der sich mit Dr. Vogel vorstellte. In der Tür des Busses hielt er eine kurze Ansprache: Meine Herren, was hinter ihnen liegt, war bestimmt nicht einfach, aber enthalten Sie sich drüben bitte jeglicher Äußerungen gegenüber der West Presse, geben Sie am besten keine Interviews und verfassen Sie keine Hetzartikel. Schweigen Sie über alles, was Sie hier gesehen haben, dies liegt im Interesse derer, die noch darauf warten in den Westen übersiedeln zu können. Vergessen Sie möglichst rasch was Sie erleben mussten und fangen Sie ein neues Leben an. Es werden jetzt gleich die Frauen in den Bus steigen. Auch wenn Sie sich jahrelang nicht, oder nur besuchsweise sehen durften, heben Sie sich die Freude des Wiedersehens bis nach dem Grenzübertritt auf. Wenn der Bus durch die Grenzübergangsstelle fährt, bleiben sie bitte auf Ihren Plätzen sitzen und enthalten sie sich jeglicher Provokationen. Es ist schon vorgekommen, dass ein Bus angehalten und zurückgeschickt worden ist. Die Fahrt dauert etwa 2½ Stunden, verhalten Sie sich ruhig! Als die Frauen zustiegen, bekamen sie keine extra Ansprache. Sie fielen ihren Männern in die Arme und weinten. Dann wurde das Tor geöffnet und die Kolonne setzte sich in Bewegung. Vorweg ein Moskwitsch, ich ahnte schon, dass hübsche Frauen darin saßen, dann der Mercedes von Vogel und dahinter unser Bus. Den Abschluss bildeten zwei Shiguli Lada 1200 S. Ich saß am Fenster, neben mir der Agent, aber wir unterhielten uns kaum. Die Kehle war zugeschnürt und ich kämpfte mit den Tränen. Wie lange hatte ich keine Bäume mehr gesehen? Die waren zwar noch nicht grün, aber es zeigten sich bereits erste Triebe. Der Blick in die Ferne strengte meine Augen an und doch freute ich mich über jedes Haus, jedes Auto, jeden Vogel den ich sah. Der Osten war nicht gerade Farbenfroh, sondern eher grau, wie die Landschaft um diese Jahreszeit. Die Wiesen und Felder zeigten Ende April, in der Mitte des Frühlings, aber schon grüne Knospen. In einigen Wochen würde alles grün sein und blühen. Wenige Kilometer noch und ich war der Hölle entronnen. Diese Fahrt würde immer die schönste meines Lebens bleiben. Die Freiheit war zum Greifen nah. Ein Blick zum Himmel verhieß nichts Gutes. Die Wolken wurden dichter und obwohl es noch nicht nach Niederschlag aussah dachte ich: Hoffentlich regnet es jetzt nicht. Was hätte wohl Leutnant K. gesagt, wenn es jetzt wie aus Kübeln schüttet: Sehen Sie, Strafgefangener Stein, Sie verlassen die Deutsche Demokratische Republik, und sogar der Himmel weint! Ich saß in einem Reisebus, den Entlassungsschein in der Tasche, der Osten lag beinahe hinter mir, und Leutnant K. fuhr in meinem Kopf mit. Würde ich ihn jemals loswerden? Ich wusste es nicht, aber ich hätte ihm in Brandenburg mit den Worten meines alten Lehrmeisters geantwortet: Ja, Herr Leutnant, Freudentränen! Kurz vor dem Grenzübergang Herleshausen stoppte der Bus. Der westlich gekleidete Fahrer und ein weiterer Mann, den ich für einen Mitgefangenen gehalten hatte und der sich die ganze Fahrt über mit einem älteren Gefangenen aus meiner Zelle unterhielt, stiegen eilig aus und ein anderer Fahrer setzte sich ans Steuer. Ich hätte den Busfahrer, der den Reisebus bis hierher gesteuert hatte, im Leben nicht für einen Stasimann gehalten. Der Kundschafter des Friedens, der Späher an der unsichtbaren Front hatte sich gut getarnt. Der Bus, der jetzt von echten Westdeutschen gesteuert wurde, nahm wieder Fahrt auf und fuhr einfach auf einer freien Spur über den Grenzübergang. Als wir die Grenzposten hinter uns ließen, hielt die anderen nichts mehr in den Sitzen. Die meisten sprangen auf, einige schrien: Freiheit! Ich saß unbeweglich am Fenster, die Grenzsicherungsanlagen zogen wie in Zeitlupe an mir vorbei, und ich brachte kein Wort heraus. Mit feuchten Augen wartete ich darauf weinen zu können, aber ich konnte es nicht. Ich wollte auch schreien, so jubeln wie die anderen, aber ich spürte nur eine unsägliche Leere. So einfach war das also. Man fährt in einem Reisebus durch den Grenzübergang. Keiner schießt, kein Reisedokument wird geprüft, man muss nicht über Mauern springen oder über Zäune klettern. Über 4½ Jahre hatte ich von meinem 15. Lebensjahr an in elf ostdeutschen Gefängnissen gesessen. Das war der Preis. O Deutschland meine Trauer, dich trennt `ne dicke Mauer und wenn man sich der Mauer naht, läuft durch das Mienenfeld, springt über Stacheldraht, und rennt dann weiter, unverdrossen, wird man erschossen von Genossen. Mein Gedicht, das ich im Licht des Turmscheinwerfers nachts als 15 Jähriger in Rummelsburg geschrieben hatte, während die Wachhunde in der Kälte jaulten, kam mir in den Sinn. Nein, erschossen hatten die Schweine mich nicht, aber meine Gefühle musste ich selber töten um zu überleben."
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