Michael Ondaatje: Katzentisch

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bienwald
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Michael Ondaatje: Katzentisch

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Der Autor:
"Michael Ondaatje wurde 1943 in Sri Lanka geboren, ist holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung und lebt heute in Kanada. Seit 1971 unterrichtet er am Glendon College der York University (Toronto) Gegenwartsliteratur.

Seine Bücher wurden mehrfach mit dem höchsten Kanadischen Literaturpreis ausgezeichnet, und für seinen Roman "Der englische Patient" erhielt er 1992 den Booker-Preis."



"Übersetzerin:
Melanie Walz, geboren 1953 in Essen, wurde 1999 mit dem Zuger Übersetzer-Stipendium und 2001 mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. Sie ist die Übersetzerin von u. a. Antonia Byatt, John Cooper-Powys, Lawrence Norfolk."

Verlagsbeschreibung:
"Drei Kinder, zu Beginn der 50er Jahre, auf einer Seereise von Ceylon nach England. Zu der buntgemischten Gesellschaft an Bord des Schiffes gehören Außenseiter, die wie sie am Katzentisch sitzen, und andere Reisegefährten, nicht zuletzt die aus der noblen Senatorenklasse. Sie alle sind geheimnisumwitterte Objekte der Sehnsucht oder der Spekulation: der Baron, der so elegant Mitreisende bestiehlt, der todkranke Millionär oder die Artistentruppe mit Wahrsager, in den sich Emily verliebt. Michael Ondaatje, der Autor von "Der englische Patient", erzählt ein Abenteuer, das Gleichnis ist für das wahre, wilde Leben: mit dramatischen Szenen, unvergesslichen Figuren und Bildern, die im Gedächtnis haftenbleiben."


Meine Zusammenfassung
Es fängt ganz harmlos an. Drei 11/12-jährige Jungs besteigen in Sri-Lanka (damals noch Ceylon) in den 50iger Jahren ein Schiff, das sie nach England bringen soll. Zunächst ist der Protagonist (Michael, genannt Mynah, was ‚der Vogel' bedeutet) alleine. Er hat noch keine Freunde, allerdings reist eine Tante mit, die ein Auge auf ihn haben soll, er sieht sie aber selten.
Er teilt eine Kabine mit einem Mann, den er die ersten Tage nicht zu Gesicht bekommt. Aber später dann schon, als der dann jede Nacht mit noch 2 anderen Karten spielt, während er auf seiner oberen Koje liegt und schläft. Oder auch nicht..

Die Mahlzeiten werden im Speiseraum des Schiffs eingenommen, wo jeder seinen Platz zugewiesen bekommt. - Mynah registriert gleich, ‚sein' Tisch ist der am weitesten vom Kapitänstisch entfernte. - Deshalb gibt er dem Tisch den Namen ‚Katzentisch'. Mit am Tisch sind noch einige Erwachsene (Mr. Sage, der Schiffe abwrackt, Mr. Daniels, der im Schiffsbauch einen Garten mit hochgiftigen Pflanzen unterhält, und noch eine altjüngferliche Miss, die manchmal ihre Brieftauben mit sich führt, in ausgepolsterten Taschen ihrer Jacke), aber auch noch zwei Jungs, etwa in seinem Alter. Ramadhin, ein stiller Junge, der herzkrank ist, und ein anderer, ein Draufgänger, Cassius genannt. Die drei freunden sich bald an, und dann beginnen die Abenteuer. Was sie alles aushecken!

Sie beobachten zunächst die Leute an ihrem Tisch, aber dann auch sämtliche Leute, die ihnen interessant vorkommen, und es sind sehr viele. Dann ist auch noch Emily da, sie sitzt woanders, ist älter als Mynah, und wunderschön. Dann gibt's noch einen Baron, der auf elegante Weise Mitreisende bestiehlt, dann ein todkranker Millionär da Silva, eine Artistengruppe mit einem Wahrsager, in den sich Emily dann verliebt. Das alles registrieren die drei.

Ich zitiere mal eine Stelle, wo in etwa zu lesen ist, wie Mynah einiges sieht:
"Ich saß auf meiner Koje und blickte zur Tür und zu der Eisenwand. Am Spätnachtmittag war es in der Kabine heiß. Ich konnte nur allein sein, wenn ich zu dieser Zeit herkam. Die meiste Zeit des Tages war ich mit Ramadhin und Cassius zusammen, manchmal mit Mazappa oder anderen Mitgliedern des Katzentischs. Nachts umgab mich oft das Geflüster der Kartenspieler. Ich musste ein bisschen zurückdenken. Wenn ich zurückdachte, konnte ich mich an den Luxus erinnern, wie es war, neugierig und allein zu sein. nach einer Weile ließ ich mich zurücksinken und sah zu der Decke in etwa einem halben Meter Entfernung hinauf. Ich fühlte mich in Sicherheit, auch mitten auf dem Meer…….."

Eine der verrückten Ideen von Cassius ist die, als ein schwerer Sturm naht, sich von Ramadhin fest anbinden zu lassen, also er und Mynah ließen sich festbinden….. - Der Sturm kommt, und was sie da erleben, schildert der Autor sehr spannend. Es ist eine verrückte, aber hochgefährliche Situation. -
Als es vorüber ist, und sie noch mal lebend davongekommen sind, werden sie zum Kapitän zitiert und erhalten eine mächtige Standpauke. Er glaubt ihren Lügen nicht, irgendjemand hätte sie festgebunden. Auch die Tante glaubt es nicht, aber sie bleiben bei ihrer Version. Sie bekommen sehr viel mit, denn sie verstecken sich nachts in einem der Rettungsboote, bekommen auf diese Weise viele Geheimnisse mit… - mit denen sie ja nichts anfangen konnten…

Sehr interessant wird es, als sie in den Suezkanal einfahren; mit einem Lotsen. Was da alles geschieht, wie es die Jungs erleben, und vor allem was einige Erwachsene jetzt da so treiben….

Nochmal interessant dann, wie sie das erste Mal anlegen, und zwar in Aden. Damals durften weder Frauen noch Kinder ohne Begleitung das Schiff verlassen und den Hafen betreten. - Natürlich haben es die Jungs geschafft, sich einem Erwachsenen angeschlossen und sich so in Aden herumgetrieben… Ramadhin nahm einen kleinen Hund mit, den er im Basar von einem Mann bekommen hatte. - Das hat dann eine schwerwiegende Nachgeschichte auf dem Schiff…
Auch hier gibt's eine lustige Sache, als nämlich das eine Mädchen, das sie auch vom Schiff kennen, sich als Junge verkleidet und sich einfach rausschmuggelt…. Es geht auch um ernste Sachen, sogar um einen Mord….aber davon nicht mehr jetzt.
Es werden noch sehr viele teilweise sehr lustige Streiche erzählt, alles in der Sprache eines 11-jährigen Jungen.

Die zweite Hälfte des Buchs ist dann eine ganz andere Art.

Jetzt geht es nämlich darum, was der Protagonist Mynah erinnert, als er in England lebt, 30 ist, und davon erzählt, wie er seine zwei Kameraden vom Schiff dann nochmal getroffen hat. Von Cassius ist öfter mal etwas zu lesen, er ist ein Exzentriker, ein Künstler, der malt, und sich allem Konventionellen entzieht. - Zu ihm hat Mynah kaum oder gar keinen Kontakt, aber mit Ramadhin und seiner Familie häufiger. -
Mynah hatte ja seine Mutter in England wieder getroffen, Ramadhin war zu seiner Familie zurückgekehrt, er hatte noch Geschwister, sie lebten in einem wenig luxuriösen Haus, in dem sich Mynah aber sehr wohl fühlte. - Und immer wieder dann Gedanken von Mynah:

"Manchmal finden wir unser Wahres, ganz und gar uns gehörendes Ich in der Jugend. Dann erkennen wir etwas in uns, was anfangs winzig ist und in das wir hineinwachsen werden. Auf dem Schiff war mein Spitzname ‚Mynah' gewesen. Es war fast mein Name, aber mit einem Luftsprung und mit der Andeutung von etwas Besonderem, ähnlich der leichten Drehung, mit der Vögel sich zu Fuß bewegen. Zudem ist der Mynah oder Beo ein unzuverlässiger Vogel, dem man trotz seiner erstaunlichen stimmlichen Fähigkeiten nicht trauen kann. Damals war ich vermutlich der Mynah unserer Gruppe, der alles, was er aufschnappte, den beiden anderen weiter erzählte……"

Später trifft Mynah dann auch Emily, mit der Schwester von Ramadhin ist er befreundet. Er heiratet auch. Ramadhin hatte seinen Doktorhut bekommen, war aber immer schon krank gewesen, und verstarb, Mynah kam zur Beerdigung und traf danach die Familie dann wieder öfter. Als er über alle Begebenheiten nachdenkt, die immer wieder in seinen Erinnerungen auftauchen, sagt er über diese Sache als sie sich anbinden ließen während des Sturms, sie wären ja der Ansicht gewesen, eine Heldentat vollbracht zu haben, als sie stundenlang mit gespreizten Armen und Beinen während des Zyklons verbracht haben.

Es werden dann noch einige sehr interessante Begebenheiten von damals geschildert, die jetzt in einem ganz anderen Licht erscheinen. - Da gab es eine Liebesgeschichte, dann Gaunereien, das alles hatten die 3 Jungen entweder falsch oder gar nicht interpretiert. -


Meine abschließende Meinung:
Zunächst, ein sich sehr überraschend entwickelndes Buch!!! - Dass es derart tiefsinnig, ja philosophisch wird, war nicht vorauszusehen nach den ersten 50 Seiten.
Was aber immer wieder zum Vorschein kommt: Keiner der 3 Jungens, auch der teils älteren Mädchen, die auch dann in England weiter aufwuchsen, hier Internate, Schulen, Universitäten besuchten, hat ohne Narben die ganze Kindheit in Ceylon erlebt, bzw. die Rückkehr nach England. - Sie sind alle irgendwie herausgerissen worden, aus ihrer vertrauten Umgebung in Ceylon, zwar nicht direkt mit der Bevölkerung lebend, aber doch sehr in Berührung mit ihnen gekommen.
Da gab's ja die vielen einheimischen Angestellten in diesen Kolonial-Bezirken, - gut, auch dort lebten diese englischen Kinder und Leute in ihrem eigenen Kokon, aber dann später in England, passierte ihnen ja wieder genau das gleiche - auch hier wieder, sie gehörten nicht zu den Engländern, die schon immer hier lebten, und sahen sich selbst immer noch als Klüngel, der von der Insel kam. - Das alles wirkte sich auf ihrer aller Leben gravierend aus. In den Nachbetrachtungen von Michael (Mynah) schildert der Autor dann sehr tiefsinnig, hinterfragend, was in ihnen vorging, warum sie dann ihr Leben so oder so gestaltet haben, und wieso das so ganz anders war als der anderen Menschen in England.

Der Autor hat dieses Buch (was er auch in seiner Schlußanmerkung erwähnt) auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie gestaltet. Allerdings fügt er hinzu, dass die Geschichte des Romans frei erfunden ist, dennoch sehr viel seines eigenen Erlebens verarbeitet ist.
Es sind auch einige Zeilen gerichtet an Dennis Fonseka, in memoriam: "Das Schiff kam furchtlos aus dem Nebel, und sie stiegen ein. - alles was neu im Leben war, sollte so sein." In seinem Schlusswort erwähnt er auch in seinem Dank an Joyce Marshall, ‚die einmal einen Rohrstuhl geraucht hat' - im Hinblick darauf, dass Cassius damals auf dem Schiff auch ähnliches geraucht hat.

Auch eine schöne Stelle, als er zurückdenkt, als er mit dem Schiff angekommen war und von seiner Mutter abgeholt wurde. Als sie ihn in die Arme schloss:

"ich konnte neben ihr einen Teil der Umwelt sehen, die Gestalten, die vorbeihasteten, ohne mich in den Armen meiner Mutter oder den g4eliehenen Koffer mit meinen Habseligkeiten neben mir zu beachten. - Dann sah ich Emily, die in ihrem weißen Kleid vorbeischritt, kurz stehen blieb und zu mir zurückblickte. Es war, als stünde für einen Augenblick alles still, als wäre alles umgekehrt worden. Sie bedachte mich mit der Andeutung eines Lächelns: Dann kam sie zurück und legte ihre Hände, ihre warmen Hände, auf meine Hände am Rücken meiner Mutter. Eine sanfte Berührung, dann ein festerer Druck, fast wie ein Signal. Und dann ging sie. Ich hatte den Eindruck, dass sie etwas gesagt hatte. - ‚Was hat Emily gesagt?' fragte meine Mutter. - ‚Es ist Zeit für die Schule' glaube ich. - Aus der Ferne winkte Emily, bevor sie in die Welt verschwand." -
Er traf Emily später - nach langer zeit - wieder.

Insgesamt - im Rückblick - ist das ein Buch, das mich sehr gefesselt hat. Nein, gefesselt ist nicht der richtig Ausdruck, obwohl es sehr spannend ist. Nein, die Hinterfragung aller Hintergründe, die Verarbeitung letztendlich dieser dreiwöchigen Reise, aus Sicht eines 11-jährigen Jungen, die birgt sehr viel Unvorhergesehenes, sehr viel Tiefe.
Der Autor hat einen sehr diffizilen Stil gewählt, eine hervorragende Dramaturgie entwickelt, die unnachahmlich ist. - Alleine die Schilderung des Sturms, die viel mehr impliziert, als das nackte Überleben, das Abenteuer…. -

Und: Ich MUSS noch mehr von ihm lesen!



Buchdaten:
ISBN-10:3-446-23858-1
EAN: 9783446238589 Erscheinungstermin: 06.02.2012
Verlag: Hanser
Einband: gebunden Originaltitel 'The Cat's Table' Sprache:Deutsch
Seiten: 300
Übersetzer: Aus d. Amerikanischen:
Melanie Walz
Herzlichen Gruß
Bienwald
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