Michael Ondaatje Der englische Patient

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bienwald
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Michael Ondaatje Der englische Patient

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Der Autor:
"Michael Ondaatje wurde 1943 in Sri Lanka geboren, ist holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung und lebt heute in Kanada. Seit 1971 unterrichtet er am Glendon College der York University (Toronto) Gegenwartsliteratur. Seine Bücher wurden mehrfach mit dem höchsten Kanadischen Literaturpreis ausgezeichnet, und für seinen Roman "Der englische Patient" erhielt er 1992 den Booker-Preis."


Kurzbeschreibung des Verlags:
"Der englische Patient" erhielt 1992 den Booker Prize und wurde 1996 durch die kongeniale Verfilmung Anthony Minghellas weltberühmt: In einer zerbombten Villa in der Nähe von Florenz treffen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges vier Menschen aufeinander: Caravaggio, einst ein Dieb, der für die Alliierten spioniert hat, Kip, ein junger Sikh, Spezialist für das Entschärfen von Bomben, Hana, eine kanadische Krankenschwester - und der englische Patient Almásy, ein Flieger, der über der nordafrikanischen Wüste abgeschossen wurde. Schwerverwundete wird er zum Mittelpunkt eines komplizierten Beziehungsgeflechts, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit, geheime Innenwelten und äußerer Ausnahmezustand miteinander verschränken. Die Zeit scheint in Michael Ondaatjes Roman aufgehoben, und doch erzählt er vom Ende der alten und dem Entstehen einer neuen Welt."



Von mir zusammengefasster Inhalt:
Zunächst, sehr, sehr schwer, hier eine Zusammenfassung des Inhalts zu verfassen…. Es geht um die Zeit (insgesamt) - zwischen Anfang 20. Jahrhundert bis ca. nach dem 2. Weltkrieg. Schauplätze? - In Italien spielt die Geschichte. Und die Geschichten in der Geschichte spielen vorzugsweise in Afrika, Ägypten, aber auch im gesamten nordafrikanischen Raum, und insbesondere in der Wüste, aber auch in England und Kanada.
Die Protagonisten? Da ist mal zuerst die Krankenschwester, Hana, aus Kanada stammend bzw. sie war Krankenschwester im Krieg, hat dann aber ihr Outfit abgelegt. - - Dazu mehr in der Geschichte - - Dann, eigentlich der Hauptprotagonist: eben -‚der englische Patient' genannt. Wobei er, wie dann in der Geschichte zu erfahren ist, gar kein Engländer ist. - Aber was ist er überhaupt? Dann ein Italiener, Caravaggio, der zu dieser Gruppe in der verfallenen Villa nördlich von Florenz stößt, und dann ein junger Sikh aus dem Pandschab, Bombenentschärfungsspezialist, Kirpal Singh, ‚Kip' genannt. Um diese vier Personen geht es dann in der gesamten Geschichte.
Hana kümmert sich aufopfernd um den sterbenden Patienten, ja sie liebt ihn. Legt sich nachts auch oft neben ihn, um ihn zu wärmen, gibt ihm aus ihrem noch vorhandenen Arzneikoffer regelmäßig Morphium. Sehr schwer zu ergründen, worauf diese tiefe Liebe basiert. Er, ein pechschwarzes, verkohltes Etwas, bewegungslos. Kann nicht selbst essen, nichts. - Aber: Er kann sehr gut sprechen - - und erzählt, erzählt, erzählt.
Angeblich soll er als Flieger in der Wüste abgestürzt sein. Nomaden sollen ihn gerettet haben und dann schließlich behilflich gewesen sein, ihn nach Kairo zu bringen. Seine Identität ist unbekannt. Er hat weder Papiere, noch einen Namen….
Im Laufe seiner Erzählungen war es aber letztendlich etwas anders. - Er hatte in Kairo eine große Liebe gefunden, eine Frau die ihn unglaublich fasziniert, ihn, der Frauen haben konnte die er wollte, der keiner Affäre viel beimaß. Diese Frau war so ganz anders, bestimmte von da ab sein Leben. - Diese Liebesbeziehung wird ausführlich geschildert, aber so ganz anders, als es je in einem Buch zu lesen ist…. !!! - Ich mache jetzt einen großen Sprung, um darauf zurückzukommen, wie es tatsächlich war, als er mit einem Flieger angeblich abgestürzt sein soll. - Es war nämlich so: Der Ehemann seiner Geliebten wollte seine Frau, sich selbst mit dem Flugzeug abstürzen lassen, an der Stelle, der der englische Patient in der Wüste auf das Flugzeug wartete….. wohlwissend, dass es keinen Weg ohne dieses Flugzeug aus dieser Wüste geben kann…. - -Das vom Pilot in Brand gesetzte Flugzeug stürzte auch ab, er barg die Leiche seiner Geliebten in einer Höhle in der Wüste (ja die gibt es) - und dann ging seine Geschichte erst weiter. Also er stürzte nicht als Pilot ab….- (aber das ist nur eine Episode während der ganzen Ereignisse in Ägypten.
Bei der Unterhaltung zwischen Caravaggio und dem englischen Patienten ist dann wiederum eine ganz andere Geschichte zu hören. Die einzige Person, die Hana schon immer kannte, ist Caravaggio. - Er war ein Freund ihres verstorbenen Vaters, aus der Zeit als sie noch in Kanada lebte. Auch seine Geschichte ist sehr spannend.
Und wenn dann noch die Geschichte von Kip dazu kommt, quasi verflechtet wird, wird es sehr interessant. Sein Aufwachsen als Kind, seine schulische Ausbildung, wie es dazu kam, dass er in den Krieg zog, für ein Land, das nicht seine Heimat ist.
Er ist zunächst in England stationiert, dann, neben vielen eingeflochtenen Geschichten als Pionier ausgebildet. Eine bestimmte kleine Einheit, die speziell dazu ausgebildet wird, Minen zu räumen, sie aufzuspüren.
Sehr interessant, es ist z.b. zu erfahren, dass, als die Deutschen sich aus Süditalien zurückzogen, das nicht getan hatten, ohne vorher zigtausende von Minen zu hinterlassen. In den unmöglichsten Stellen verborgen. - Und das genau war die Spezialität von Kip.

Es werden unglaublich spannende Situationen von ihm geschildert, als er bestimmte Bomben entschärft. Er setzt immer sein Leben ein. Um sich ganz darauf zu konzentrieren, hat er Kopfhörer auf, und hört so seine Musiken. - so kann er nicht von anderen Personen, Lauten usw. abgelenkt werden. Es sind natürlich ganz viele technische Einzelheiten eingeflochten. Die zwar etwas langatmig sind, aber dennoch sehr, sehr interessant. Und: diese ganzen Aktionen dieser Bomben- und Minenentschärfer wurden streng geheim gehalten, Helden wurde nie bekannt. - aus Sicherheitsgründen, damit der Feind nicht einschätzen konnte, die Fertigkeit der anderen im Umgang mit Waffen sollte geheim bleiben.

Von mir nur bruchstückhaft dargelegt. Was aber das hoch interessante und auch sehr ausführlich dargelegte ist, das sind die vielen Einzelheiten, die einfließen. - Ob es jetzt die Beschaffenheit, die Natur, die Geschichte der Wüste ist, oder auch wenn es um Geheimdienste während des Krieges geht, um Kriegserlebnisse, Verwicklungen usw. - das ist grandios vom Autor diesen Protagonisten zugeordnet.

Es wird geschildert, wie es in dieser Villa zugeht, eine Ruine, wo es kaum noch Außenwände gibt, alles unter primitivsten Umständen geregelt werden muss. Wie Hana das Haus irgendwie versorgt, aber auch, wie die anderen zwei sich auch aus ihrer Arzneitasche mit Morphium versorgen….


Abschlussbemerkung:
Der Autor hat hier die Geschichte von vier Menschen, zuerst jede einzelne, aber dann die Zusammenhänge aller Geschichten und Personen in eine wahnsinnig kompakte Dramaturgie verpackt. Was Ähnliches habe ich bisher nur bei Michael Ondaatje gelesen.

Ich zitiere mal eine Stelle, wo erkennbar ist - in etwa - in welcher Sprache der Autor schreibt:

"Mit einem knackenden Trennlaut, als würde er aus einer ungeteilten Einheit gebrochen, zerrte sie den ‚Letzten Mohikaner" heraus, und selbst in diesem Halblicht munterten der aquamarinblaue Himmel und der See des Umschlagbildes sie auf, der Indianer im Vordergrund. Und dann, als wäre jemand im Raum, der nicht gestört werden durfte, ging sie rückwärts, in ihren eigenen Spuren, zur Sicherheit, doch auch als Teil eines privaten Spiels, so würde es von den Fußabdrücken her den Anschein haben, sich dann aber aufgelöst. Sie schloss die Tür und brachte das warnende Siegel wieder an" . -(Minenwarnung) "Sie setzte sich im Zimmer des englischen Patienten in die Fensternische, die bemalten Wände an der einen Seite, das Tal an der anderen. Sie öffnete das Buch. Die Seiten waren in einer steifen Welle aneinandergefügt. Sie kam sich wie Caruso vor, der ein untergegangenes Buch findet, das ans Ufer gschwemmt und schon getrocknet ist. - - Ein Bericht über das Jahr 1757 - illustriert von N.C. Wyeth. Wie bei allen kostbaren Büchern war da die wichtige Seite mit der Liste der Illustrationen, jeweils eine Textzeile. Sie trat in die Geschichte ein, im Bewusstsein, daraus mit einem Gefühl hervorzukommen, als wäre sie in das Leben anderer eingetaucht, in Handlungen, die zwanzig Jahre zurückreichten, ihr ganzer Körper von Sätzen und Augenblicken erfüllt, als erwachte sie aus einem Schlaf mit der Schwere vergessener Träume."

Das war jetzt eine Stelle, die nichts verrät vom Ende, das eigentlich kein Ende ist, sondern einfach aufzeigt, in welcher wunderschönen, so viel aussagenden Sprache alles geschrieben ist.
Hochinteressant sind auch immer wieder die Stellen, wo der englische Patient, bzw. über ihn und über das von ihm aus den Flammen gerettete Buch ‚Historien' von Herodot, berichtet wird.
Dieses Buch hat er mit sehr vielen handschriftlichen Notizen versehen, u.a. auch von anderen Büchern ausgeschnittene Seiten hinzugefügt. - - "..so ist alles eingebettet in den Herodot…" Ein ganz besonderer Teil des Buchs widmet sich der Wüste. Hier wird sehr häufig Herodot herangezogen. - Eine ganz besondere, zumindest mir total unbekannte Geschichte. - Es gibt eine uralte Geschichte der Wüste. Bekannt ist sie durch Überlieferungen, Nomaden wissen oft Teile davon. Z.b. werden ja - bei Grabungen oder Brunnenbohrungen Skelette von Fischen gefunden. Also war die Wüste vor Millionen Jahren ein Meer… aber das ist es nicht alleine, das dürfte schon in etwa bekannt sein. Hier eine Stelle:

"Die Wüste konnte nicht als Eigentum eingefordert oder als Besitz angesehen werden - es war ein Stück Tuch, von Winden getragen, nie von Steinen niedergehalten, und hatte hundert wechselnde Namen bekommen, lange bevor Canterbury existierte, lange bevor Schlachten und Verträge Europa und den Osten zusammenstoppelten. Die Karawanen der Wüste, jene seltsamen umherziehenden Feste und Kulturen, hinterließen nichts, nicht einmal Glutasche. Wir alle, selbst jene mit europäischem Zuhause und Kindern in der Ferne, wünschten die Hüllen unsrer Länder abzustreifen. Es war ein Ort des Glaubens…."


Ziemlich am Ende des Buchs - der Krieg ist zu Ende - die Atombomben in Hiroshima und Nagasaki sind gefallen… Da stellt Kip Überlegungen an…. Sehr umfassend, aber eins ist schon sehr interessant. Er fragt, ob diese Atombomben auch auf ein Land gesteuert worden wären, wenn dort Weiße lebten…. - Und: er sieht die Entwicklung, von sehr gefährlichen, hinterhältigen Bomben und Minen jetzt hin zu Atomwaffen…

Am Ende dann, Kip will in seine Heimat, Indien, die er seit ewigen Zeiten, - so kommt es ihm vor - nicht gesehen hat, und jetzt mit anderen Augen sieht. - das Ende vom englischen Patienten bleibt vage, nur in Andeutungen erkennbar…. Ebenso ist es mit Caravaggio. Hana verlässt als letzte die Toskana, diese alte verfallene Villa.

Ich habe jetzt überhaupt nichts verraten. - Weil es keinen Schluss gibt! Vom gesamten Inhalt habe ich nur winzige Fragmente preisgeben können, er ist zu umfangreich, zu vielfältig. Wie die einzelnen Schicksale sich treffen, früher getroffen haben, Zusammenhänge und vieles mehr - das muss man selbst lesen!! Und, dass das alles in nur 383 Seiten erzählt wird, ist eine Kunst, die nur ein hervorragender Schriftsteller beherrscht. Und das ist Ondaatje.

Ein spannendes, informatives, aufrüttelndes Buch, mal sehr, sehr einfach zusammengefasst. Es ist nicht schnell zu lesen, es erfordert sehr häufiges Zurückschlagen, oder auch einfach Pausieren, weil sehr viele Eindrücke zu verarbeiten sind.

Im Nachwort erklärt der Autor, welche Begebenheiten Realität waren, seine Recherchen, und was von ihm frei erfunden wurde. Frei erfunden sind lediglich der Dramaturgie dienende persönliche, ergänzende Geschichten. Kriegsschauplätze, Waffen- und Bombeneinzelheiten usw. entsprechen der Wahrheit.


Buchdaten:
ISBN-10:3-423-19112-0
EAN: 9783423191128
Erscheinungstermin: 01.07.2007
Verlag: dtv
Einband: Taschenbuch
Originaltitel: The English Patient
Sprache: Deutsch
Seiten: 383
Übersetzer: Adelheid Dormagen
Reihe: dtv-Taschenbücher


mein Buch ist allerdings eine gebundene Ausgabe.
Herzlichen Gruß
Bienwald
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