Stephan Carmen: MAL ARIA

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bienwald
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Stephan Carmen: MAL ARIA

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Die Autorin:
Carmen Stephan, geboren 1974, lebt in München und Rio de Janeiro, 2005 erschien der Geschichtsband ‚Brasilia Stories' -

Mal Aria' ist ihr erster Roman.
"Eine Geschichte über Leben und Tod. Erzählt von einem Moskito."

Verlagsbeschreibung:
"Am Abend lief Carmen noch um die Wette am Strand - in der Nacht weckt sie ein kalter Schmerz. Es ist der letzte Urlaubstag ihrer Reise durch den Amazonas.

Von einem Tag auf den anderen kämpft die junge Frau um ihr Leben. Kein Arzt weiß ihr zu helfen, sieht das Naheliegende.
In der scheinbaren Sicherheit eines Krankenhauses geschieht das Unvorstellbare - und nur einer weiß alles: der Moskito, der Carmen gestochen hat und von da an, durch das Blut mit ihr verbunden, zur Stimme der Natur, zum sprachmächtigen Erzähler wird.
Immer tiefer verbindet er sich mit Carmen, immer tiefer zieht er den Leser in ihre Geschichte - eine Parabel über die Unkontrollierbarkeit des Lebens, über die großen Fragen des Menschseins. "›Mal Aria‹ zu lesen, ist, als verstünde man plötzlich, nach langen Jahren des Geschnatters, den Akt des Sehens und das Gesehene, den Seher und das Spektakel."


Meine Zusammenfassung:
Es fängt sehr interessant an, und zwar erzählt diese Fliege: "Stellt euch die einfache Frage. Warum erschuf Gott den Menschen am letzten Tag und ein Insekt vor ihm? Warum steckt die Natur den Tod in ein winziges Wesen, wie ich es bin? Dann streicht das Warum, begreift endlich. Lernt mich kennen. Jeder Schwarm braucht ein Gehirn, das ihn lenkt. Nennt mich die Schwarze. Wenn die Nacht hereinbricht, schrumpfen die Menschen und die Mücken wachsen. Seht den Schatten an eurer Wand, die Fühler, die Beine, die langen Palpen. Hört mich singen, aus der dunkelsten Ecke des Zimmers. Schlaft ein. Werdet wehrlos. Ich bin da."

Zu Beginn ist ein junges Paar unterwegs in Brasilien. Da wird eines Tages das Mädchen von einer Mücke gestochen. Sie bemerkt es aber gar nicht gleich. Nur als dann einige Tage später deutlich merkbar ist, dass sie irgend etwas Schreckliches hat, wird klar, aha - sie wurde von dieser Fliege gestochen. Und da tritt auch gleich diese Fliege selbst in den Fokus, erzählt aus ihrer Sicht…. Und die Fliege hat Mitleid mit dem Mädchen und heftet sich an ihre Fersen. Sie bleibt bis fast zum Ende der Geschichte in ihrer Nähe….

Interessant ist, dass auch die genaue Verfahrensweise dieses Malaria-Erregers dargestellt wird. Die Forscher und Ärzte tappten noch bis 1880/1890 total im Dunkeln. Aber da ist ein gewisser Laveran, in Paris geboren, der im November 1880 den ‚Bacillus malariae' zerstörte.

Laveran arbeitete als Arzt zunächst in Algerien, wo ihm diese in Paris total unbekannte Krankheit aufgefallen war. - später dann als Militärarzt in Constantine.(schon sein Großvater und Vater waren Ärzte gewesen)
In diesen nordafrikanischen Regionen hatten die Franzosen zahlreiche Plantagen eingerichtet, mit Wasserversorgung und und und…. Und hatten somit eine Brutstätte für diesen Bazillus geschaffen. Aber darauf kam ja niemand, dass diese Krankheit aus den Sümpfen kommt, hatten alle erkannt, aber nicht, dass darin dieser Bazillus regelrecht gezüchtet wird!!
Er gab sich mit dem was er sah nicht zufrieden und war so eigentlich der Entdecker dieses Bazillus. Er untersuchte die Verstorbenen und fand bei allen eine schwarz verfärbte Leber. Seine philosophischen Gedanken dazu lässt die Autorin auch einfließen, die sehr interessant sind. - Plötzlich sieht er den Menschen nicht mehr als einzigartiges Wesen; sobald er von diesem ‚Unbekannten' angegriffen wurde, und jeder Mensch reagierte darauf gleich, bestimmte dieser Bazillus alles….

Ich zitiere mal eine interessante Stelle, wo die Fliege wieder erzählt:
"……Also erfandet ihr Dinge: keine grünen Bananen essen, kein Wasser trinken, in das ein grüner Affe uriniert hat! - Nicht zu heiß baden! -sonst bekommst du Malaria! -so heißt es noch heute in manchen ländlichen Gegenden der Illha do Marajó, und die Menschen sind davon überzeugt, als handele es sich um einen wissenschaftlichen Beweis. Noch heute sind Nebel und Morast ein Symbol des Horrors, obwohl zunächst nichts Bedrohliches von ihnen ausgeht. Vor dem Hintergrund der Miasmen-Theorie jedoch wuchs die Furcht in den Köpfen eurer Vorfahren, und sie gaben sie an euch weiter. Es war unbegreiflich. Nicht zu fassen. Vieles begreift ihr immer noch nicht. Doch mit einem hattet ihr Recht. Die Krankheit kam tatsächlich aus den Sümpfen. Unsere Eier legen wir darin ab, jedes für sich. Die Kreatürchen haben luftgefüllte Zellen, sind oval, an den Enden zugespitzt, sie schwimmen wie ein Miniatur-Kahn im Wasser. Unsere Larven sind scheu und agil. Bei der geringsten Erschütterung des Bodens, beim Vernehmen eines Tons, tauchen sie blitzschnell unter und kommen erst nach einiger zeit wieder an die Oberfläche. Ihr hättet keine neuen Städte bauen müssen. Ihr hättet nur ein paar Minuten still am Ufer warten müssen. So lange, bis die winzige Bötchen wieder auftauchten, die eure Augen zu sehen noch nicht bereit waren."

Die Erkrankung des Mädchens wird zunehmend ernster….. und bedrohlich. Sie verliert teilweise das Bewusstsein, ist dann in einer Klinik…. Und: das Tragische, alle Ärzte vermuten alles Mögliche, nur nicht, dass sie mit Malaria angesteckt sein könnte. Das ist die Tragik.
Diese Fliege versucht zwar rührend, die Ärzte auf den Weg zu weisen, aber die Hinweise werden übersehen.
Diese Fliege erzählt durchaus nachvollziehbar, wie sie und ihre Artgenossen zu diesem Parasiten kommen. Sie selbst sind unschuldig. Es nistet sich einfach bei ihnen ein, und sie geben es - ohne es zu wollen oder zu wissen, weiter an die Menschen.
Das alles nützt dem Mädchen nichts. - Ihr Freund muss mittlerweile zurück nach Deutschland, lässt sie dort zurück im Krankenhaus. Ihr geht es immer schlechter, noch hat kein Arzt die Lösung gefunden. Dabei wäre es die Rettung für sie gewesen.


Meine abschließende Meinung:
Ein aufwühlendes, sehr interessantes Buch, über eine Krankheit und ihre Ursachen, die eigentlich seit vielen Jahren bekannt sind. Aber: So habe ich es noch nie gelesen.
Von der Autorin raffiniert gestaltet, weil sie diese Fliege mit in die Geschichte einbaut, und diese erzählen lässt. Hier mal noch eine Stelle: die Fliege ist wieder dran:

"irgendwie musste ich den Menschen begreifbar machen, was geschehen war. Damit die Geißeln zerstört werden konnten. Nur wie? Wie sollten wir kommunizieren, wenn wir offensichtlich nichts gemeinsam hatten. Bemerkten sie mich, brachte ich mein eigenes Leben in Gefahr. -………Ihre Augen glänzten matt und fern. Sie sah aus wie der jeder Malariakranke. Als wäre sie nicht mehr da. Ihr Kopf wollte ihr Leben zurück. Wünsche kamen, Tiefe kam, wie immer wenn ihr krank werdet. Was würde sie alles tun, wenn sie erst zu Hause ist. - Was hatte sie für Möglichkeiten. Jetzt. Auf einmal." - - - -

Es ist auch viel zu erfahren über die ganze Geschichte der Malaria, wie viele Millionen Menschen ihr zum Opfer fallen, auch heute noch. Und noch ist Malaria längst nicht ausgerottet. Es bleibt eigentlich nur, diese bestimmte Fliege zu vernichten, die als Keimträger funktioniert, ohne es zu wissen oder zu wollen.

Wenn Urlauber in diese Gebiete reisen, lassen sie sich impfen. Das ist gut. ABER: die Millionen von Menschen die dort leben sind ja nicht geimpft!!!
Natürlich sind auch die philosophischen Betrachtungen die eingefügt sind, sehr aussagekräftig und hochinteressant! (siehe oben in der Einleitung des Moskitos).

Hier eine Exkursion in die Geschichte der Malaria:
Eine Geschichte der Irrtümer, falscher Vermutungen. Die italienische Wurzel dieses Namens ‚Malaria' - ‚Mal' = schlechte Luft - - Weil die Menschen früher dachten, diese Krankheit käme von den fauligen Dämpfen aus den Sümpfen, die durch den Atem in den Körper der Menschen eindringen… - Bereits 2.500 v. ‚Chr. Vermuteten die Leute diesen Ursprung, weil jährlich nach der Regenzeit diese Seuche auftrat. ‚Mal' also schlechte Luft - ‚Aria' bedeutet lateinisch ‚Lied'.
Die Menschen flüchteten in die Höhe, bauten neue Städte in den Höhen (z.b. in Apulien, Sizilien), weil sie diesen giftigen Dämpfen ausweichen wollten. Es war eine neue Architektur entstanden, eine Architektur der Malaria. - Eine Architektur des Missverständnisses…. Der Grund wurde also in der Atmosphäre vermutet, es sollen sogar tote Vögel vom Himmel gefallen sein…. - - ! Die Fliege denkt wieder: (am Krankenbett des Mädchens, die Ärzte hatte eine Diagnose gestellt, aber Malaria gar nicht vermutet!!!

"Aber es gab die Diagnose, sie wussten jetzt wie es sich verhielt. In einer Woche, hatte der Arzt gesagt, sei alles vorbei……… - Begreift denn niemand was hier geschieht? - Muss jede kleinste kaum wahrnehmbare Handlung ihre Folgen haben? Alles kausal sein? Was tue ich hier? Warum bin ich nicht abgehauen, wie sonst auch? - Das ‚Nichtwissen' ist ein Ruhekissen. Ihr Menschen baut doch auch keine Beziehung auf einer Mahlzeit auf. Was für eine absurde Idee. Ich verschwinde. Das alles geht mich nichts mehr an…….."

Aber die Fliege verschwindet nicht…. Sie bleibt bis zum Ende, auch ihrem eigenen. Sie hat ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um den Menschen einen Hinweis zu geben, das Mädchen zu retten…. - alles nutzlos.

Grade habe ich gesehen im Regionalfernsehen, dass eine hiesige Gruppe, die seit 40 Jahren die Schnakenplage hier am Rhein erfolgreich bekämpft hat, demnächst nach Burkina Faso reist, und dort ihre Aktionen anwenden will…. - gegen diese Fliegen. Wenn das so erfolgreich ist, wie das hier ist, dann sehe ich eine Riesenchance, diese diese Krankheit übertragenden Fliegen (Tsetsefliege genannt) zu vernichten.

Für mich hochinteressant war, zu erfahren, wie sich das genau mit dieser Malaria verhält, ihre Ursache usw. - und vor allem, weil Jahrhundertelang niemand die Ursache gefunden hatte und ihr Millionen von Menschen zum Opfer gefallen waren.
Bei uns gibt's seit zig Jahren keine derartige Schnakenplage mehr. Früher, bevor diese Aktion hier begonnen hat, konnten die Leute in der Rheingegend abends niemals die Fenster öffnen…. Da fand eine Invasion statt. Heute sind zwar immer noch Schnaken da, aber nur in diesen Gegenden wo Bade-Seen sind, oder Tümpel oder stehende Gewässer, die kaum in den Griff zu bekommen sind. Aber es ist merklich besser geworden, und es wird ja immer weiter und weiter geforscht, auch dieses Übel zu beseitigen.




Buchdaten:
Verlag :FISCHER
ISBN 978-3-10-075141-6 Einband gebunden
Seiten: ca. 208 S. Erscheinungsdatum
1. Aufl. 17.08.2012
Herzlichen Gruß
Bienwald
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