Carla Berling: Mordkapelle. Ein Ostwestfalen-Krimi

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Vandam
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Carla Berling: Mordkapelle. Ein Ostwestfalen-Krimi

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Carla Berling: Mordkapelle. Kriminalroman, München 2017, Heyne Verlag, ISBN 978-3-453-41996-4, Klappenbroschur, 399 Seiten, Format: 12,1 x 3,4 x 18,8 cm, Buch: EUR 9,99, Kindle Edition: EUR 8,99. Auch als Hörbuch lieferbar.

Bad Oynhausen, Ostwestfalen: Auch wenn Lokalreporterin Ira Wittekind, 55, erst seit ein paar Jahren wieder hier lebt, ist sie bestens vernetzt. Wie das eben so ist, wenn man an einem Ort aufgewachsen ist und an jeder Ecke noch jemanden „von früher“ kennt. Daran ändert auch eine jahrzehntelange Abwesenheit nichts. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Ira noch vor allen anderen Pressevertretern von einem grausigen Mordfall erfährt: In der brennenden Friedhofskapelle sitzt ein Toter im Rollstuhl. Jemand hat den Mann niedergeschlagen und angezündet.

Ein Toter im Rollstuhl – angezündet!
Um wen es sich bei dem Toten handelt, ist schnell klar: um den Apotheker Ludwig Hahnwald. Auch wenn er schon fast 80 war, war er immer noch eine imposante Erscheinung und machte seinem Spitznamen „der schöne Ludwig“ alle Ehre. Er war beliebt, galt als freundlich und charmant, und niemand kann sich wirklich erklären, wer Grund gehabt hätte, dem alten Herrn so etwas Schreckliches anzutun.

Noch besser informiert als Ira Wittekind scheint nur noch der Blogger Marek Steinhauer zu sein. Er hat offenbar viele Kontakte und wenig Skrupel und schmeißt von seiner Webseite aus ordentlich mit Dreck. Auf journalistische Sorgfalt pfeift er. So will Ira keinesfalls arbeiten, doch es ärgert sie, dass er ihr immer eine Nasenlänge voraus ist. Und so kniet sie sich ordentlich rein in die Recherchen über den Fall Hahnwald. Erst soll sie für ihre Zeitung nur einen Nachruf auf den Ermordeten schreiben. Doch auf einmal hat sie so viel Material, dass es für eine ganze Serie reicht.

Hinter den Kulissen der Hahnwald-Villa war nicht alles so harmonisch, wie es nach außen hin schien. Allein schon die Familienverhältnisse sind kompliziert. Hahnwalds erste Frau Ilse ist verstorben, von Ehefrau Nr. 2, Charlotte, ist er geschieden. Sie lebt seit Jahren in Frankreich. Zuletzt war er mit der 30 Jahre jüngeren Katja verheiratet.

Familienverhältnisse wie bei „Dallas“!
Kinder hat(te) Ludwig nur aus der zweiten Ehe. Tochter Betty ist mit dem Arzt Wim Klettenberg verheiratet und kinderlos. Sohn Arno ist jung verstorben. Dessen Witwe Miriam wohnt mit Söhnchen Claudius auf dem Hahnwald-Anwesen und hat von ihrer Schwiegerfamilie keine allzu hohe Meinung. Offenbar war Ludwig Hahnwald ein Kontrollfreak. Er hat sich sogar dazu verstiegen, seine Familie mittels Überwachungsanlage zu bespitzeln.

Sophie und Frieda Weyer, die betagten Tanten von Ira Wittekinds Lebensgefährten Andy, steuern noch eine interessante Information bei: In den 1960er-Jahren soll Ludwig ein junges Mädchen namens Rosie adoptiert und nach einem skandalösen Vorkommnis ein paar Jahre später wieder verstoßen haben. Die Tanten meinen sich zu erinnern, dass das Verhältnis von Ludwig zu seiner angenommenen Tochter alles andere als väterlicher Natur gewesen sei. So wurde jedenfalls seinerzeit gemunkelt. Und wo Rauch ist ... Na ja, gut, das Sprichwort ist in diesem Zusammenhang vielleicht ein bisschen geschmacklos.

Der Mörder wird langsam nervös
Motiv und Täter sind also mit hoher Wahrscheinlichkeit im familiären Umfeld zu suchen. Ira forscht nach und stößt auf einen Sumpf von unklaren Verhältnissen, grenzkriminellen Manipulationen und Mauscheleien, Kränkungen, Lügen und Familiengeheimnissen. Und was immer sie auch herausfindet: Marek Steinhauer ist ihr mit seinem reißerischen Blog einen Schritt voraus. Woher hat dieser Kerl nur seine Informationen?

Doch der Krawalljournalist ist bald schon Ira Wittekinds geringstes Problem. Irgendjemanden muss sie mit ihren Recherchen so nervös gemacht haben, dass er/sie sich nun aufs Drohen verlegt. Bei Telefonterror und Sachbeschädigung bleibt es jedoch nicht. Ehe Ira es sich versieht, schweben sie und ihre Angehörigen in tödlicher Gefahr ...

Je genauer die Lokalreporterin hinsieht, desto mehr Leute findet sie, die allen Grund gehabt haben, den schönen Ludwig zum Teufel zu schicken. Wer’s von denen dann wirklich war, ist eigentlich gar nicht so wichtig. Man will nur, dass der Täter so schnell wie möglich aus dem Verkehr gezogen wird, damit Ira und ihre Leute aus der Gefahrenzone kommen und wieder ruhig schlafen können. Ich bin sicher, die Autorin hätte uns auch jede/n anderen der Verdächtigen glaubwürdig als Täter/In verkaufen können.

Was geschah wirklich mit Rosie?
Spannend und hochinteressant war vor allem das Stochern in Ludwigs Vergangenheit. Was geschah wirklich mit der Adoptivtochter und welche Auswirkungen hatte das auf die Beteiligten? Es gibt eben Erlebnisse, die man auch nach vierzig Jahren nicht einfach abhaken und vergessen kann.

Sollte sich ein Leser grämen, weil er den Überblick über die vielen Frauen in Ludwigs Leben verliert: Den haben selbst die Romanfiguren nicht immer. :-) Da wird schon mal im Eifer des Gefechts die (Stief-)Schwiegermutter als Schwägerin bezeichnet (Seite 337). Ich habe mir auf einem Schmierzettel einen kleinen Stammbaum skizziert, was eine enorme Hilfe war.

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Einen herzhaften Kontrast zu den düsteren Familiengeheimnissen der Hahnwalds bieten Nebenfiguren wie Andys trinkfeste Tanten, die von Ira immer auf dem Laufenden gehalten werden wollen und alle Erkenntnisse und Ereignisse herrlich unverblümt kommentieren. Iras Jugendfreundin, die raubeinige Taxifahrerin Coco, steht den beiden in punkto deutlicher Wortwahl in nichts nach. Diese Damen sorgen für die befreiende Komik in der Geschichte. Ihre Dialoge klingen wunderbar authentisch. Wenn Ira und Andy sich unterhalten, hört sich das manchmal ein wenig künstlich an. Aufpassen muss man, wenn von Tante Erna die Rede ist. Das ist Iras Hund. ;-) Das hat mich ein ums andere Mal kurz aus dem Konzept gebracht ... dass eine der Tanten jetzt plötzlich herumhopst und bellt.

Band 4 einer Reihe. Rest folgt
Man merkt, dass MORDKAPELLE der vierte Band einer Reihe ist. Die Bände 1 bis 3 sind bereits 2013 – 2015 im Selfpublishing erschienen und werden nach und nach von Heyne neu verlegt. Natürlich versteht man den Inhalt des vorliegenden Krimis auch ohne Kenntnis der vorangegangenen Bände, aber es ist klar, dass die Personen in dem Roman eine lange gemeinsame Geschichte verbindet, die man als Quereinsteiger nur andeutungsweise mitkriegt. Einer der Weyer-Brüder – also ein „Schwager“ von Ira - muss auf tragische Weise ums Leben gekommen sein. Es wird sicher auch einen Grund haben, dass Iras Lebenspartner sich zwar rührend um seine zwei alten Tanten kümmert, aber seine Mutter, Tochter und Ex-Frau kaum eine bis gar keine Rolle in seinem Leben spielen. Hätte in den kleinen „Steckbriefen“ auf der vorderen Umschlagklappe (nette Idee!) nichts von Andy Weyers Familienverhältnissen gestanden, hätte ich ihn für einen Junggesellen in den besten Jahren gehalten. Auch Iras eigene Familiengeschichte wirft Fragen auf. Zu gerne wüsste ich, wie ihr Vater das ganze gesehen hat. Hat sie ihn je dazu befragen können?

Diese Wissenslücken werden sich vermutlich schließen, wenn ich die Reihe komplett gelesen habe – was ich gerne tun werde.

Die Autorin
Carla Berling, Ostwestfälin mit rheinländischem Temperament, lebt in Köln, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Mit der Krimi-Reihe um Ira Wittekind landete sie 2013 auf Anhieb einen Erfolg als Selfpublisherin. MORDKAPELLE ist ihr erster Wittekind-Roman bei Heyne. Bevor sie Bücher schrieb, arbeitete Carla Berling jahrelang als Lokalreporterin und Pressefotografin. Sie tourt außerdem regelmäßig mit ihrer Comedyreihe Jesses Maria durch große und kleine Städte.
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