Martine Lestrat: Bonjour Deutschland

Stellen Sie ein Buch detailliert vor - mit Inhaltsangabe und Ihrem Urteil.
Antworten
Benutzeravatar
Vandam
Beiträge: 1617
Registriert: Do 22. Sep 2005, 15:40
Kontaktdaten:

Martine Lestrat: Bonjour Deutschland

Beitrag von Vandam »

Bild

Martine Lestrat: Bonjour Deutschland, Berlin 2017, Elvea Verlag, ISBN 978-3-74504151-4, Softcover, 173 Seiten, Format: 18,6 x 12,2 x 1,2 cm, Buch: EUR 9,99, Kindle Edition: EUR 3,99.

„Gegen Vorurteile anzuarbeiten ist (…) nicht immer ganz leicht, da diese für Sicherheit sorgen als Mittel gegen die Angst vor Neuem. Wenn wir das, was wir erwarten, antreffen, dann befinden wir uns auf bekanntem Terrain, was beruhigend ist. Verständlicherweise halten wir daher ganz fest an unseren Vorurteilen. Wer würde einen solchen Schutzmechanismus schon freiwillig aufgeben?“ (Seite 78)

Was für eine mutige, kluge und humorvolle Frau! Ich habe BONJOUR DEUTSCHLAND mit großem Vergnügen gelesen und bin ein ums andere Mal durch öffentliches Kichern in der Bahn auffällig geworden. Ihr seid also gewarnt! ;-)

Doch von vorn: Ihren späteren Mann, einen Deutschen, lernt die Französin Martine Lestrat kennen, als sie gerade in einem Kibbuz in Israel arbeitet. Nach zwei Jahren des Pendelns zwischen Frankreich und Deutschland kündigt Martine ihren Job und zieht zu ihrem Partner nach Hannover. Dort will sie Sozialpädagogik studieren. Ihre Deutschkenntnisse sind zu der Zeit gleich null, sieht man von einem Crashkurs ab, den ihr ein befreundeter Deutschlehrer kurz vor ihrer Abreise noch schnell verpasst hat. Aber wenn sie sich mit Französisch und Englisch in Israel durchschlagen konnte, wird sie auch in Deutschland klarkommen, denkt sie. Und dann wird sie zügig die Sprache lernen, um das Studium baldmöglichst aufnehmen zu können. Sie war schon immer eine Optimistin.

Wie lernt man Deutsch in Deutschland?
Weil ihre vierjährige Tätigkeit in der Psychiatrie von der Hochschule nicht anerkannt wird, muss Martine sich nun einen Praktikumsplatz in einer sozialen Einrichtung suchen. Gar nicht so einfach, wenn es noch an Sprachkenntnissen mangelt! Im Alltag von Deutschen Deutsch lernen zu wollen, ist nahezu unmöglich. Jeder, der ihren Akzent hört, will sofort Englisch oder Französisch mit ihr sprechen. Ein Anfängerkurs an der Volkshochschule entpuppt sich als Flop und ein Fortgeschrittenen-Kurs verunsichert sie, weil sie feststellt, dass sich die Einheimischen gar nicht an die Regeln halten, die man ihr im Unterricht vermittelt.

Als hilfreich erweisen sich schlussendlich die Kinder in dem Kindergarten, in dem sie ihr Praktikum macht. Die freuen sich, endlich mal einem Erwachsenen etwas beibringen zu dürfen. Sie können auch auf keine Fremdsprachenkenntnisse ausweichen und erklären geduldig alles so lange, bis Martine es versteht. Als Martines Sprachkenntnisse Fortschritte machen, muss die sie feststellen, dass es einige der Kids faustdick hinter den Ohren haben …

Studentenjobs mit Risiken und Nebenwirkungen
BAföG bekommt Martine nicht, also muss sie während des Studiums arbeiten. Dies führt zu kuriosen, komischen (die Stellenanzeige!) aber manchmal auch demütigenden Erlebnissen. Martine nimmt’s gelassen: Meine verschiedenen Jobs waren nicht nur kostenlose Sprachkurse, sondern auch eine unerschöpfliche Quelle menschlicher Verhaltensweisen, die ich mit Vergnügen studierte.“ (Seite 36)

Wichtig ist ihr diese Erkenntnis: „Je besser mein Deutsch wurde, desto höher wurde mein Stundensatz. Ich kann Migrantinnen und Migranten nur empfehlen, die Sprache des Landes zu lernen. Es lohnt sich!“ (Seite 42) Wenn es auch mühsam ist. Wenn man liest, wie schwierig und umständlich es für sie war, ihre erste Hausarbeit auf Deutsch zu verfassen, denkt man unwillkürlich, dass da schon ein starker Wille dahinterstecken muss. Sonst tut man sich so etwas nicht an. Meine Bewunderung ist der Autorin gewiss!

Schließlich findet sie den optimalen Nebenjob für sich: In den Semesterferien begleitet sie deutsch-französische Begegnungen. Zunächst als Betreuerin, dann steigt sie innerhalb der Organisation auf. Dabei hilft ihr natürlich, dass sie beide Seiten kennt: Als Kind hat sie in Frankreich selbst an Freizeiten teilgenommen wie denen, die sie jetzt als in Deutschland ausgebildete Sozialpädagogin organisiert.

Die Fallstricke der Fremdsprache
Wer selbst Fremdsprachen gelernt hat, kennt das: Redewendungen und Sprichwörter sind immer für Missverständnisse gut. Und dann gibt’s noch die „false friends“: Wörter, die so ähnlich klingen wie welche aus der Muttersprache, aber eine ganz andere Bedeutung haben. Ja, im Französischen gibt’s das altmodische Wort „archi“, das „ganz“ oder „völlig“ bedeutet. Genau das hat Martine im Kopf, als sie von ihrem Mann den Begriff „a r s c h k a l t“ übernimmt. Die Angestellten des katholischen Kindergartens reagieren darauf unerwartet pikiert. Da zeigt der Probst schon deutlich mehr Humor, als Martine eine peinliche Vokabelverwechslung unterläuft.

Die Anekdoten über die Sprachschnitzer, sind zu köstlich. Das sind die Stellen, an denen man unvermittelt laut loslachen muss. („Alle Heinz“!)

Ernste und kluge Gedanken macht sich Martine Lestrat zum Thema Vorurteile. „Schubladendenken dient üblicherweise zur Orientierung und Sicherheit und hilft Menschen, mit einer neuen Situation umzugehen. Manchmal allerdings auch mit einer nicht ganz so neuen Situation.“ (Seite 87)

Der ewige Kampf gegen Vorurteile
Wenn Martine mit den gängigen Männerphantasien von einer Französin konfrontiert wird, ist das peinlich, schräg und unangenehm, hat aber keinerlei praktische Konsequenzen. Wie sie als Ausländerin auf Ämtern und im Beruf behandelt wird, hat durchaus Auswirkungen – und keine guten. Dass manche Leute fix zurückrudern, wenn sie merken, dass sie keine Polin oder Russin, sondern eine Französin ist, macht die Sache nicht besser. Gibt’s denn gute und weniger gute AusländerInnen?

Und ist es nicht auch Diskriminierung, wenn man Martines berufliche Erfolge ihrem „charmanten“ Akzent zuschreibt statt ihrer fachlichen Kompetenz und ihrer Einsatzbereitschaft? Verständlich, dass sie sich darüber ärgert. Und schön, dass sie versucht, mit ihrem Engagement bei den deutsch-französischen Begegnungen Vorurteilen entgegenzuwirken. Die gibt’s nämlich nicht nur bei den Ewiggestrigen, für die der Krieg noch immer nicht vorbei ist!

Natürlich ist bei unseren westlichen Nachbarn manches ein bisschen anders als bei uns. Und? Ist doch gut! Wenn alle alles auf die gleiche Weise machen würden, wäre das dann nicht furchtbar langweilig? Vielleicht gibt’s ja anderswo Gewohnheiten, die einem gut gefallen und die man gerne übernehmen möchte? Martine zum Beispiel hat die herzlichen Begrüßungs-Umarmungen im Freundeskreis zu schätzen gelernt. Mit der überkorrekten deutschen Sitte der getrennten Restaurant-Rechnungen kann sie sich dagegen nicht anfreunden. Und auf Brot und Wasser zu den Mahlzeiten verzichtet sie höchst ungern. Aber was will man machen, wenn die Bedienung frech antwortet: „Brot? Wieso? Sie haben doch Kartoffeln!“

Französin oder Deutsche?
Nachdem Martine Lestrat mittlerweile länger in Deutschland lebt als sie je in Frankreich gelebt hat – und tapfer der Versuchung widerstanden hat, in einem ganz anderen Land noch einmal von vorn anzufangen – fragt sie sich irgendwann einmal, ob sie eigentlich noch Französin ist oder schon Deutsche. Weil die Frage nicht so leicht zu beantworten ist, erstellt sie eine Liste mit deutschen und französischen Angewohnheiten und Eigenschaften. Das Ergebnis ist eindeutig und dürfte niemanden mit binationalem oder anderweitig multikulturellem Hintergrund überraschen …

BONJOUR DEUTSCHLAND ist ein sehr sympathisches und überzeugendes Beispiel dafür, dass vor allem zwei Dinge zu einem guten Miteinander verschiedener Kulturen beitragen: Wissen und Humor.

Die Autorin
Martine Lestrat, geboren 1959, zog mit 24 Jahren von Frankreich nach Deutschland. Ihr Studium der Sozialpädagogik finanzierte sie durch zahlreiche Jobs und ihre pädagogische Mitarbeit bei deutsch-französischen Begegnungen und Fortbildungen. Sprache(n) und Schreiben haben sie damals schon begeistert. Nach ihrer Ausbildung zur Gesundheitsberaterin bot sie unter anderem Seminare an und hielt Vorträge. Später war sie wieder als Sozialpädagogin tätig und fing an, ihre Erfahrungen in Deutschland aufzuschreiben. Mit Humor statt erhobenem Zeigefinger möchte die Autorin kulturelle Differenzen aufzeigen. Lustige und nachdenklich machende Geschichten – humorvoll betrachtet und geschrieben. www.bonjour-deutschland.eu
Antworten