Dror Mishani: Die Möglichkeit eines Verbrechens. Ein Tel-Aviv-Krimi

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Vandam
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Dror Mishani: Die Möglichkeit eines Verbrechens. Ein Tel-Aviv-Krimi

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Dror Mishani: Die Möglichkeit eines Verbrechens. Ein Tel-Aviv-Krimi, OT: Efsharut shel alimut, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, München 2018, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-21717-0, Softcover, 334 Seiten, Format: 12,1 x 2,5 x 19 cm, Buch: EUR 10,95 (D), EUR 11,30 (A), Kindle Edition: EUR 15,99.

„Das Meer war dunkel und aufgewühlt, und winzige Lichtpunkte blinkten am Horizont von einem Frachtschiff auf. Nur die Augen öffnen und genau hinschauen, dachte er. Am Ende verbinden sich alle Punkte.“ (Seite 103)

Nachdem Avi Avraham, Inspektor bei der Polizei in Tel Aviv, die Ermittlung in einem Vermisstenfall spektakulär vergeigt hat, hat er eine mehrmonatige Auszeit genommen und ist nach Brüssel zu seiner Freundin Marianka gereist. Sie wird in Kürze ihren Dienst bei der belgischen Polizei quittieren und zu ihm nach Tel Aviv ziehen. Das ist zumindest der Plan.

Nach seiner Rückkehr schaut Avraham eigentlich nur schnell zum Amtsantritt seines neuen Chefs auf dem Revier vorbei. Zum Dienst muss er erst nach Yom Kippur wieder. Aber man lässt ihn nicht weg. Die Pflicht ruft! In Cholon, südlich von Tel Aviv, hat jemand einen Koffer mit einer Sprengsatzattrappe vor einem Kindergarten abgestellt. Der Aktion waren Drohanrufe vorangegangen, was Chava Cohen, die Leiterin der Kindergartens, der Polizei jedoch zunächst verschwiegen hat. Aus Gründen.

Wer bedroht denn einen Kindergarten?
Verdächtig macht sich der Kleinkriminelle Amos Usen. Aber welches Motiv sollte er haben? Die Polizei hat nichts gegen ihn in der Hand und muss ihn wieder laufen lassen. Jetzt werden die Erzieherinnen und die Eltern der Kindergartenkinder durchleuchtet. Gab es vielleicht Streitigkeiten und ein Elternteil hat sich zu dieser Aktion hinreißen lassen? Und tatsächlich: Der Catering-Unternehmer Chaim Sara, mit 57 ein später Vater von Schalom (3) und Eser (7), ist vor kurzem mächtig mit der Kindergartenleiterin aneinandergerasselt. Er hat sie verdächtigt, seinen Sohn misshandelt zu haben.

Bei der polizeilichen Befragung verhält sich Chaim Sara merkwürdig. Er ist ein sonderbarer Kauz, introvertiert und schweigsam. Der alte Polizeitrick, nichts zu sagen und zu warten, bis die Leute sich um Kopf und Kragen quasseln, weil sie die Stille nicht ertragen, funktioniert bei dem einsilbigen Kerl nicht. Dann sitzen eben zwei da und sagen nichts. Manche Fragen beantwortet er wiederum erstaunlich wortreich und ausführlich, als hätte er es vorher geprobt.

Ein Sonderling macht sich verdächtig
Im Gegensatz zu Avi Avraham und seinen Polizei-Kollegen wissen wir LeserInnen – oder ahnen zumindest – was den Unternehmer belastet. Nicht nur wirtschaftliche Sorgen. Er ist allein mit seinen beiden Söhnen. Seine Frau Jennifer Salazar, die vor 10 Jahren als Altenpflegerin von den Philippinen nach Israel gekommen war, ist weg. Warum genau, das ist lange nicht klar, denn Chaim hat für jeden eine andere Erklärung parat. Ist Jenny in ihre Heimat zurückgekehrt, weil sie ihren Vater pflegen muss? Weil sie Heimweh hatte? Weil sie als Ehefrau und Mutter unglücklich war? Ist sie überhaupt auf den Philippinen oder ist sie mit einem Liebhaber durchgebrannt, wohin auch immer? Mit ihrem Ex-Mann, vielleicht? Oder ist ihr etwas zugestoßen? Unfall, Totschlag, Mord? Hat Chaim ihr etwas angetan? In Rückblicken wird Jennys Leben an der Seite ihres Mannes aufgerollt, und alles ist denkbar.

Aber wenn Chaim seine Frau umgebracht haben sollte, warum kauft er dann Geschenke für sie und plant mit seinen Söhnen eine Reise nach Manila, um sie nach Israel zurückzuholen?

Inspektor Avraham ahnt von alledem nichts. Er behält den seltsamen Catering-Unternehmer im Auge, weil er ihm die Sache mit der Bombenattrappe zutraut. In diesem Zusammenhang würde er gerne mit Jennifer sprechen. War sie die anonyme Anruferin, die Leiterin des Kindergartens bedroht hat? Aber Jennifer ist nicht zu erreichen. Langsam wird der Inspektor misstrauisch.

Erzieherin im Koma, Ehefrau verschwunden
Eines Abends wird die Kindergärtnerin Chava Cohen brutal zusammengeschlagen. Auf ihrem Handy: ein Dutzend Anrufe von Chaim Sara.

Frau Cohen liegt im Koma. Es dauert Wochen, bis sie vernehmungsfähig ist und den Angreifer identifizieren kann. Und das ist nicht Chaim Sara! Doch Avraham glaubt ihr nicht. Er hat sich in die Vorstellung verbissen, dass der Catering-Unternehmer der Täter sei. Und dass er möglicherweise seine Frau hat verschwinden lassen und jetzt seinen Kindern etwas antun will. Avis Kollegen können seine Gedankengänge nicht so recht nachvollziehen. Jagt der Inspektor Gespenster, weil er den Misserfolg im Vermisstenfall Ofer Sharabi wieder wettmachen will? Oder weil er ziemlich durch den Wind ist, seit seine Freundin Marianka nicht mehr auf seine Anrufe reagiert?

Der Inspektor lässt sich nicht irritieren. Er will unbedingt Jennifer Salazar finden und bittet einen Kollegen in Manila um Amtshilfe. Und das führt zu ganz erstaunlichen Erkenntnissen ...

Avi – ein rätselhafter Protagonist
Ich bin ja gerne ein Helden-Versteher, wenn man mich lässt. Hier sind jedoch nicht nur die verschiedenen Kriminalfälle ein Rätsel, sondern für mich auch der Protagonist. Vielleicht muss man zwingend den ersten Band der Reihe, VERMISST, kennen, um mitzukommen. Hat man den nicht gelesen, weiß man zu wenig über Avi Avraham, um zu begreifen, was ihn umtreibt. Wie kommt es, dass seine Freundin, eine Polizistin mit slawischem Namen, in Belgien lebt? Wie kam es zu dieser Fernbeziehung? Wie lange sind die beiden schon zusammen? Wenn ich das wüsste, würde es mir helfen, ihren Umgang miteinander ein bisschen besser zu verstehen.

Mir ist klar, dass das ursprünglich ein Buch für den israelischen Markt war und ich erwarte auch gar nicht, dass man uns erklärt, warum Chaim und die Katholikin Jennifer eigens nach Zypern reisen müssen, um zu heiraten. Das weiß man entweder sowieso oder kann es leicht herausfinden: weil’s in Israel keine Ziviltrauungen gibt. Eine genaue Personenbeschreibung der Figuren brauche ich auch nicht, aber ein paar Eckdaten wären nicht schlecht. Wie alt ist Inspektor Avraham eigentlich? Ist er noch neu im Geschäft? Hat im letzten Fall versagt, weil er Berufsanfänger-Fehler gemacht hat? Ist er ein müder, desillusionierter alter Kämpfer? Oder ist er generell der falsche Mann im falschen Job?

Auch im vorliegenden Band macht er seine Arbeit ja nicht gerade gründlich. Er vergisst, eine wichtige Zeugin zu vernehmen und kann von Glück sagen, dass ihm der Fall deswegen nicht um die Ohren fliegt. Und auf welcher Grundlage will er eigentlich den Caterer wegen versuchten Mordes an seinen Kindern drankriegen? Der tut doch gar nichts dergleichen. Das geschieht alles nur in Avrahams Kopf. Vielleicht liest der Inspektor in seiner Freizeit wirklich zu viele Krimis.

Eine tragische Familiengeschichte
Die tragische Geschichte der Familie Sara ist sehr berührend, wenngleich auch mit vielen Wiederholungen erzählt. Jeder hat sich etwas erhofft vom Leben, keiner hat’s bekommen. Vielleicht hätte es ja geholfen, wenn sie mal offen miteinander gesprochen hätten. Aber dazu waren sie wohl nicht in der Lage. Sie taten mir allesamt furchtbar leid und werden mir wohl noch eine Weile im Gedächtnis bleiben.

Alles, was den Kommissar anging, war mir dagegen eher ein Ärgernis. Ich hasse es, wenn man als Leser orientierungslos durch eine Geschichte eiert, weil einem wichtige Informationen fehlen. Wenn ich schon die Grübeleien und die schlechte Laune eines Helden ertragen soll, will ich wenigstens nachvollziehen können, warum er so schlecht drauf ist.

Zu viele offene Fragen
Sollte jemand herausfinden, was es mit der mysteriösen Einbruchserie auf sich hat, bei der der Täter an den Tatorten alte Zeitungsausschnitte von ungelösten Kriminalfällen hinterlässt (Seite 313 - 316), nehme ich sachdienliche Hinweise dankbar entgegen. Kurz vor Schluss wird hier noch schnell Spannung aufgebaut, und nach ein paar Seiten heißt es lapidar, der Fall sei gelöst worden. Aha. Und was war da nun? Das erfahren wir nicht.

Vergeblich habe ich gehofft, dass es so ist wie in dem obigen Zitat: dass man wirklich nur genau hinzuschauen braucht, damit sich alle Punkte zu einem Bild verbinden. Das passiert aber nicht. Den nächsten Fall, DIE SCHWERE HAND, löst Avi Avraham mit ziemlicher Sicherheit ohne mich.

Der Autor
Dror Mishani, geboren 1975, ist Lektor bei Keter Books in Jerusalem (u.a. der Werke von Henning Mankell) und Literaturprofessor, spezialisiert auf die Geschichte der Kriminalliteratur.
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