Victoria Bindrum: Glücklich ist, wer vergisst, dass hier alles kacke ist. Anleitung für ein echt gutes Leben

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Vandam
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Victoria Bindrum: Glücklich ist, wer vergisst, dass hier alles kacke ist. Anleitung für ein echt gutes Leben

Beitrag von Vandam »

Victoria Bindrum: Glücklich ist, wer vergisst, dass hier alles kacke ist. Anleitung für ein echt gutes Leben, Köln 2019, Bastei Lübbe, Vollständige Taschenbuchausgabe der bei Lübbe Ehrenwirth unter dem Titel DAS GEFLÜGELTE NILPFERD erschienenen Hardcoverausgabe, ISBN 978-3-404-61044-0, Softcover, 239 Seiten, Format: 12,5 x 18,5 x 2 cm, Buch: EUR 10,00, Kindle-Ausgabe vom geflügelten Nilpferd: EUR 9,99.

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Abb. © Bastei Lübbe

„Eine (...) in den USA durchgeführte Studie zeigt (...), dass das Glücksempfinden von Lottogewinnern und Unfallopfern mit Querschnittslähmung sich ein Jahr nach dem extrem positiven oder negativen Ereignis wieder angleicht. Das bedeutet: Sie können genauso wenig dauerhaft glücklich wie dauerhaft unglücklich werden.“ (Seite 56/57)

Ich habe diesen psychologischen Ratgeber wegen seines albernen Titels angefordert, dem auf dem Cover das eine oder andere Komma nicht geschadet hätte. Von Botschaft und Niveau wollte ich mich überraschen lassen.

Mit Psycho-Ratgebern habe ich eigentlich immer die gleichen Probleme: Entweder bieten sie so flache Allerweltsratschläge, dass man sie gar nicht erst zu lesen braucht, oder sie haben Substanz, so wie dieser hier. Dann beunruhigt mich oft die Vorstellung, die „Werkzeuge“ der Profis ohne kundige Anleitung in den Händen von betroffenen Laien zu wissen. Wenn man sich nicht bei einem Psychologen/Psychiater rückversichern kann, dass man die Ausführungen und Anweisungen auch richtig verstanden hat, kann so eine DIY-Therapie böse enden.

Prämisse: Es gibt kein dauerhaftes Glück
Dem Grundgedanken des Buchs wird wohl jeder lebenserfahrene Mensch zustimmen: Es gibt kein dauerhaftes Glück. Das Leben ist mal und mal so. Ergo braucht man sich auch nicht damit zu plagen, das ewige Glück zu suchen. Ob Beruf, Partnerschaft und Familie, der perfekte Körper oder Spiritualität und Religion – nichts und niemand wird einen für immer glücklich machen. Es ist alles nur eine Weile toll. Dann gewöhnt man sich daran und die Euphorie nutzt sich ab, oder es tun sich neue Probleme auf. Und schon ist es wieder vorbei mit dem Glück.

So ist das Leben. Diese Erfahrung macht man irgendwann. Und damit wäre für mich das Thema eigentlich schon erledigt. Wo ist das Problem? Es reicht doch, wenn man immer mal wieder für eine begrenzte Zeit so richtig glücklich ist, oder? Das ist besser als nichts. Dann sucht man sich wieder neue Projekte, Aufgaben und Etappenziele, hat eine Weile Freude daran und wurstelt sich auf diese Weise durchs Leben. Das ist so wie mit dem Putzen: Man macht sauber, freut sich, dass alles so schön ordentlich ist, und nach ein paar Tagen sieht es wieder aus wie die Sau. Dann putzt man erneut, erfreut sich am Ergebnis, es wird wieder schmutzig … und so weiter, und so fort. Dauerhaftes Glück gibt es genau so wenig wie dauerhafte Sauberkeit. Das weiß man doch!

Kreative Hoffnungslosigkeit
Und dann lese ich hier, es gebe kein Ziel und es gebe nichts zu erreichen. Heißt das nun, dass man sich nicht mehr „optimieren“ muss, weil es in Ordnung ist, unperfekt zu sein? Oder soll ich das so verstehen, dass man sich gar nicht erst mit Schulabschluss, Berufsausbildung und Partnerwahl abzumühen braucht, weil einen sowieso nie etwas glücklich machen wird? Um beim Bild vom Putzen zu bleiben: Ist ein mäßig ordentlicher Haushalt okay oder sollen wir das Saubermachen gleich ganz einstellen, weil es auf Dauer eh nichts bringt? Nichts mehr zu wollen, zu planen und zu unternehmen würde einen aber pfeilgerade in die Depression führen, oder nicht?

Victoria Bindrum spricht von „kreativer Hoffnungslosigkeit“. Wir sollen erkennen, dass unsere bisherigen Versuche, unser Leben dauerhaft zu verbessern, gescheitert sind. Stattdessen sollen wir unser Leben neu entdecken, denn wir verfügen über das Potential, es auszukosten und ihm eine Bedeutung zu verleihen.

Was darf man denn wollen?
Vielleicht liegt es daran, dass ich ungefähr doppelt so alt bin wie die Autorin, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, ein irgendein erwachsener Mensch daran glaubt, dass Glück von Dauer sein könnte. Und was ist falsch an Zielen, die einen vorübergehend zufriedener machen? Wenn jemand einen sportlichen Wettkampf gewinnen, ein Haus bauen, Klavier spielen lernen oder ein Kinderfest organisieren will, dann lasst ihn/sie doch, um Himmels Willen! Ich kann daran nichts Verwerfliches erkennen.

Das wäre jetzt der Punkt, an dem ich gerne mit einem Profi über das Thema reden würde. Gibt es gute Ziele und schlechte Ziele? Was darf man denn wollen und was nicht?

Die Autorin, bzw. die Akzeptanz- und Committment-Therapie, aus der die Gedanken und Übungen aus diesem Buch stammen, sind für Werte statt für Ziele. Aber wenn ich beschließe, künftig mit Mut, Humor und Gelassenheit durchs Leben zu gehen, habe ich doch trotzdem etwas vor! Der Mensch macht nun mal Pläne. So ist er konstruiert. Wenn wir eine Aufgabe erfolgreich gelöst haben, springt unser Belohnungssystem an. Und wenn wir keine Probleme/Herausforderungen/Aufgaben haben, dann denken wir uns welche aus. (Das erklärt für mich das unermüdliche Tun von Menschen, die heimwerken, an Autos schrauben oder handarbeiten.)

Immerfort Probleme lösen zu müssen, steckt dem Homo sapiens in den Genen. Das ist seine ursprüngliche Überlebensstrategie.

Vom Umgang mit negativen Gedanken
Da ich das Grundproblem, das mit Hilfe dieses Ratgebers gelöst werden soll, nicht nachvollziehen kann, sind natürlich auch die praktischen Übungen an mich verschwendet.

Interessant sind jedoch die Ausführungen zum Umgang mit negativen Gedanken. Vermeiden, fliehen, bekämpfen, betäuben oder sich ihnen zu ergeben ist auf die Dauer ungesund und nicht zielführend. Wie man sie als zum Leben gehörend akzeptieren kann, dafür gibt es Techniken. Die würde ich auch ungern ohne fachliche Begleitung in den Händen von jemandem wissen, der z.B. am Rande einer Depression wandelt, aber bei alltäglichen emotionalen Befindlichkeitsstörungen dürften sie hilfreich sein.

Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie
Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) ist hauptsächlich im Hinblick auf Depressivität, Angststörungen und Suchterkrankungen erforscht worden. Bemerkenswert ist, dass diese Therapie nicht lange brauchte, um positive Effekte zu zeigen. Die TeilnehmerInnen an der Studie bekamen die Techniken in einigen Stunden erklärt und konnten dann allein damit arbeiten. Diese kurzen Erklärungen haben ausgereicht, um eine statistisch bedeutsame Veränderung zu bewirken. „Wenn das tatsächlich für die diagnostizierte psychische Störungen der Fall ist – bedenken Sie, welche Wellen diese Übungen in Ihrem Leben schlagen können.“ (Seite 212), schreibt die Autorin. Ja. Vorausgesetzt, man kapiert, worauf es ankommt und setzt auch alles richtig um.

Das Buch liest sich locker und unterhaltsam, fast wie ein Gespräch mit einer Freundin. Die Autorin schreibt auch Romane, und man merkt, dass sie weiß, was sie tut. Der titelgebende Spruch von der Kacke taucht im Buch nirgendwo auf und hat auch mit dem Grundgedanken des Ratgebers nichts zu tun. Er klingt eben provokant und wirkt wahrscheinlich verkaufsfördernd.

Victoria Bindrums Definition eines Problems werde ich mir allerdings zu Eigen machen: „Für den Moment können wir festhalten, dass ein Problem eine Abweichung zwischen Soll- und Ist-Zustand ist, sofern irgendjemand diese Abweichung empfindet und sich an ihr stört.“ (Seite 41)

Die Autorin
Victoria Bindrum, geboren 1987, ist Diplom-Psychologin mit dem Schwerpunkt Klinische Psychologie und Psychotherapie und Fortbildung in Akzeptanz- und Commitmenttherapie. Seit Jahren unterstützt sie beruflich Menschen in Problemsituationen. Außerdem forschte sie über Faktoren zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Wohlbefinden. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin und veröffentlicht unter ihrem Mädchennamen Romane (Victoria Seifried / Victoria-Louise Seifried). . Seit 2007 schreibt sie Gedichte und Kurzgeschichten, die sie auf Poetry Slams, Stand-up-Comedy-Bühnen und bei unterschiedlichen Kulturprojekten vorträgt.
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spiralnebel111
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Re: Victoria Bindrum: Glücklich ist, wer vergisst, dass hier alles kacke ist. Anleitung für ein echt gutes Leben

Beitrag von spiralnebel111 »

Nun, ja, ich habe einige gelesen, bevor ich das schrieb! :wink: Und finde sie als Ideenlieferant oft gar nicht so schlecht, ich muß es beim Lesen nur von vornherein so sehen!
"Man muß heute davon ausgehen, dass die Wahrnehmungen verschiedener Menschen, sehr viel unterschiedlicher sind, als bisher angenommen!" (Ich weiß leider nicht mehr, wer das vor einigen Jahren sagte. Ich glaube es war ein Gehirn- oder Denkforscher).
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Vandam
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Re: Victoria Bindrum: Glücklich ist, wer vergisst, dass hier alles kacke ist. Anleitung für ein echt gutes Leben

Beitrag von Vandam »

Ich hab in jungen Jahren sehr viele von diesen Psychoratgebern gelesen, war aber hauptsächlich an den Fallbeispielen interessiert. So hat das natürlich nix geholfen. :-D Mir sind inzwischen schnöde Informationen über Kommunikation, das Gedächtnis, Resilienz etc. lieber als Ratgeber. Wissen zu wollen, wie der Mensch "funktioniert" ist nicht verkehrt.
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spiralnebel111
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Re: Victoria Bindrum: Glücklich ist, wer vergisst, dass hier alles kacke ist. Anleitung für ein echt gutes Leben

Beitrag von spiralnebel111 »

Ich kann mich an meinen ersten Erinnern: "Sorge Dich nicht, lebe!" Ich war völlig fasziniert, aber damals schon der Meinung, das ich ihn nicht brauche. Das waren nicht so meine Probleme, die da angesprochen wurden, oder genauer gesagt: nicht "mein Ding", denn da ging es ja um Einiges, was von den Betroffenen gar nicht als Problem angesehen wurde. Ich hatte eindeutig handfestere Probleme. Es las sich aber sehr unterhaltsam. :wink:
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