Ingrid Zellner: Stumm vor Angst. Schwäbische-Alb-Krimi. Der dritte Fall von Kriminalkommissar Surendra Sinha

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Vandam
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Ingrid Zellner: Stumm vor Angst. Schwäbische-Alb-Krimi. Der dritte Fall von Kriminalkommissar Surendra Sinha

Beitrag von Vandam »

Ingrid Zellner: Stumm vor Angst. Schwäbische-Alb-Krimi. Der dritte Fall von Kriminalkommissar Surendra Sinha, Tübingen 2020 Silberburg-Verlag, ISBN 978-3-8425-2246-6, Softcover, 256 Seiten, Format: 12,1 x 2,7 x 19 cm, Buch: EUR 12,99, Kindle: EUR 9,99.

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„Es ist echt nicht zu fassen, dachte er ironisch. Ich kann wirklich nirgends hinfahren, ohne über mindestens eine Leiche zu stolpern. Aber diesmal werde ich den Teufel tun und bei den Ermittlungen mitmischen. Findet mal schön selbst heraus, wer hier gegen das fünfte Gebot verstoßen hat, Freunde.“ (Seite 94)

Kriminalkommissar Surendra Sinha, 37, in Stuttgart geborener Sohn indischer Eltern, ist nicht nur ein überaus fähiger Ermittler mit sehr viel Charme, er hat auch ein unglaubliches Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Zum einen weil er emotional zu sehr in seine Arbeit involviert ist und Vorschriften schon mal großzügig auslegt, zum anderen, weil er sogar im Urlaub die Neigung hat, sich in die Arbeit der Kollegen vor Ort einzumischen. Das ist keine Selbstüberschätzung – er will nur helfen. Wie’s der Teufel will, kennt er immer jemanden, der etwas mit dem Fall zu tun hat oder er findet gleich selbst einen Toten.

Der Kommissar und das stumme Mädchen
Seit dem tragischen Tod seiner Verlobten ist Surendra nicht mehr er selbst. Zurzeit ist er beurlaubt. Statt in Friedrichshafen zu ermitteln, wohnt er samt Katze Saleti vorübergehend wieder bei seinen Eltern in Stuttgart und überlegt, ob er weiterhin Polizist bleiben möchte. Doch weil seine Mutter – bei aller Liebe – ziemlich naseweis und anstrengend ist und unermüdlich versucht, ihn unter die Haube zu bringen, beschließt er, für eine Weile seinen früheren Vorgesetzen Frank Hasemann in Hechingen zu besuchen. Der ist inzwischen pensioniert, lebt allein und freut sich über Gesellschaft. Mit seinem Gast zieht er das volle Touristenprogramm durch.

Auf der Burg Hohenzollern trifft Surendra ein zehnjähriges Mädchen, das anscheinend alleine dort ist. Besorgt geht er der Sache nach, doch die Kleine kann seine Fragen nicht beantworten. Sie ist stumm. Als die Mutter auftaucht, wird sie zur Furie, weil sie ihr Kind mit einem fremden Mann sieht. Frank Hasemann kennt die Hintergründe: Das Mädchen ist Linnea Gruber, die Tochter der Bauunternehmerin Natalia Gruber, und hat vor drei Jahren mit ansehen müssen, wie ihr Vater bei einem Hausbrand ums Leben kam. Seitdem spricht sie nicht mehr.

Der Mörder fordert „GERÄCHTIGKEIT“
Den Brandstifter hat man damals gefasst, der sitzt. Fall erledigt – sollte man meinen. Doch die Zeugin, die den Täter seinerzeit gesehen und identifiziert hat, ist vor wenigen Monaten ermordet worden. Da scheint noch jemand eine Rechnung offen gehabt zu haben. Am Tatort wurde eine Botschaft gefunden, die „GERÄCHTIGKEIT!“ lautet. Schreibfehler oder Wortspiel? Rache oder Gerechtigkeit für wen?

Aus purem Zufall hatte Surendra Sinha mit der ermordeten Zeugin, Vanessa März, schon einmal beruflich zu tun. Und schon sind alle guten Vorsätze vergessen und er hat wieder die Finger in einem Fall drin, der ihn gar nichts angeht. Weder durch das abweisende Verhalten der zuständigen Kollegen noch durch fremdenfeindliche Übergriffe lässt er sich davon abbringen, in Hechingen privat zu ermitteln. Dass Mutter und Tochter Gruber sich mit Frank Hasemann und ihm anfreunden, motiviert ihn zusätzlich, bereitet ihm aber ungeahnte Probleme.

Je intensiver sich Surendra mit den Fällen Gruber und März beschäftigt, desto stärker wird sein Verdacht, dass der verurteilte Brandstifter womöglich unschuldig einsitzt. Er hätte zwar ein Motiv gehabt, den Grubers das Haus über dem Kopf anzuzünden, es könnte aber auch alles ganz anders abgelaufen sein.

Surendra Sinha ermittelt auf eigene Faust
Als im Umkreis der Grubers ein weiterer Mord geschieht, bei dem „GERÄCHTIGKEIT“ gefordert wird, gibt’s für Surendra kein Zurück mehr. Jetzt will er’s wissen. Er verlängert seinen Aufenthalt in Hechingen und sucht den Mörder auf eigene Faust. Möglicherweise erfährt er dadurch ja auch, was damals wirklich bei dem Hausbrand geschehen ist. Und vielleicht kann er lange genug in Hechingen bleiben, um das traumatisierte Kind wieder zum Sprechen zu bewegen. Seit sie Frank, ihn und Katze Saleti als Freunde hat, taut sie merklich auf. Svenja, die attraktive Assistentin der Bauunternehmerin, wäre ebenfalls ein Grund zum Bleiben.

Wie tief Surendra schon in dieser mörderischen Geschichte drinsteckt, wird ihm viel zu spät klar ...

Dem Kommissar fehlt die Distanz
Da hat die Autorin ihren Helden auf einen gefährlichen Weg geschickt! Irgendwann wird’s dem Kommissar noch zum Verhängnis werden, dass er sich immerzu persönlich in seine Kriminalfälle verstrickt. Oder anders herum gesagt: Dass er auf eigene Faust ermittelt, sobald jemand aus seinem Umfeld betroffen ist.

Es macht ihn zwar sehr sympathisch, dass er mit allen Kreaturen mitfühlt, hilfsbereit ist und Ungerechtigkeiten aus der Welt schaffen will, aber für seinen Beruf ist das nichts. Da ist mehr emotionale Distanz gefordert als er aufbringt. Entweder sucht er sich jetzt zügig professionelle Hilfe und kriegt das irgendwie geregelt, oder es geht früher oder später schief. Selbst wenn er seinen Beruf aufgeben würde, wäre er noch nicht aus der Gefahrenzone. Auch als Ausbilder oder Sozialarbeiter würde er weiter versuchen, im Alleingang Kriminalfälle zu lösen, an denen andere sich schon die Zähne ausgebissen haben.

Der Mix der Kulturen macht den Kommissar interessant. Schon allein, wenn die Familie kocht und feiert, ist das klasse! Zu seinem Leidwesen muss er sich immer wieder für seine Herkunft, seine Religion und seine Ansichten rechtfertigen und erklären. Nicht selten gerät er an Zeitgenossen, die einen dunkelhäutigen, hinduistischen Deutschen nicht akzeptieren können. Aber auch wenn’s manchmal dicke kommt – solange seine Mutter in der Nähe ist, ist für befreiendes Lachen gesorgt. Sie ist ein Familienmensch und stets um ihre Lieben in aller Welt besorgt. Dass sie dabei mitunter weit über das Ziel hinausschießt und übergriffig wird, ist ihr nicht bewusst. Aber ihr Sohn erträgt es mit Langmut und nimmt ihr ihre mitunter haarsträubenden Aktionen nicht übel. Sie meint es ja gut.

Mutter in Hochform
Es ist ein Wunder, dass Zenobia Sinha nicht versucht, ihren Sohn mit Natalia Gruber, Linneas Mutter, zu verkuppeln. Sie dient ihn doch sonst jedem weiblichen Wesen passenden Alters als Ehemann an! Aber vielleicht ist eine verwitwete Geschäftsfrau nicht das, was ihr als Schwiegertochter vorschwebt. In der Baubranche muss frau verdammt taff sein und darf sich nichts gefallen lassen. Natalia würde vermutlich knallhart Grenzen setzen und sich jede Einmischung in deutlichen Worten verbitten. Als Leserin stelle ich mir diese Konstellation allerdings sehr amüsant vor. :-D

Ich bin gespannt, wie die Reihe um Kommissar Surendra Sinha weitergeht. Entweder er kommt jetzt wieder auf die Beine oder er geht unter.

Wenn man sich in der Gegend auskennt, hat man, wie bei den meisten Regionalkrimis, einen kleinen Bonus: Man muss sich die beschriebenen Handlungsorte nicht erst in seiner Phantasie vorstellen, sondern hat gleich ein Bild vor Augen. Doch man kommt auch ohne Ortskenntnisse wunderbar mit. Vorm Dialekt muss man sich auch nicht fürchten. Zwar muss man davon ausgehen, dass die Leut’ auf der Alb schwäbisch schwätzen, aber geschrieben ist alles in lesefreundlichem Hochdeutsch.

Die Autorin
Ingrid Zellner, geboren 1962 in Dachau. Studium der Theaterwissenschaft, der Neueren deutschen Literatur und der Geschichte in München. 1988 Magisterexamen. Dramaturgin 1990 bis 1994 am Stadttheater Hildesheim und 1996 bis 2008 an der Bayerischen Staatsoper München. Freiberufliche Tätigkeit u.a. als Übersetzerin (Schwedisch) und Autorin sowie als Schauspielerin und Regisseurin. Bevorzugte Reiseziele: Skandinavien, die Arktis und Indien.
www.ingrid-zellner.de
www.facebook.com/ZellnerIngrid
www.kashmirsaga.de
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