Alfred Bodenheimer: Der böse Trieb: Ein Fall für Rabbi Klein

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Vandam
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Alfred Bodenheimer: Der böse Trieb: Ein Fall für Rabbi Klein

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Alfred Bodenheimer: Der böse Trieb: Ein Fall für Rabbi Klein, Zürich 2021, Kampa Verlag, ISBN 978-3-311-12530-3, Hardcover, 248 Seiten, Format: 12,1 x 2,7 x 19 cm, Buch: EUR 19,90, Kindle: EUR 14,99.

„(...) Normalerweise haben wir bei einem potenziellen Täter ein Motiv und müssen die Beweise beschaffen, dass er es auch war. Hier haben wir eine ziemlich aussagekräftige Indizienkette, aber kein Motiv.“
„Und Sie würden mich bitten, Ihnen ein Motiv zu beschaffen.“
Karin Bänziger lächelte gequält. „Sie haben eine unnachahmliche Art, sich auszudrücken, Herr Rabbiner. Aber wenn Sie sich umhören können und auf etwas stoßen, könnte es dem Prozess der Wahrheitsfindung dienlich sein.“
(Seite 168)

Fast hätte ich den sechsten Fall des Zürcher Rabbi Klein verpasst. Nur durch Zufall habe ich erfahren, dass „er“ nach fünf Bänden den Verlag gewechselt hat. Auch im vorliegenden Band lässt Klein sich wieder als Ermittler in einen Kriminalfall hineinziehen. In die Abgründe der menschlichen Seele zu blicken und einem Täter auf die Schliche zu kommen ist für ihn eben ungleich spannender als das tägliche Einerlei des Gemeindelebens und die kleinkarierten Händel mit dem Gemeindevorstand. Und es lenkt wunderbar von den eigenen Problemen ab.

Wer hat den Zahnarzt umgebracht?
Doch von vorn: Der Zahnarzt Viktor Ehrenreich gehört nicht zur Gemeinde von Rabbi Gabriel Klein. Er lebt in Deutschland, in einem kleinen Dorf im Landkreis Lörrach. Die beiden Männer haben sich vor sieben Jahren bei einer Veranstaltung kennengelernt, und seitdem kommt der Zahnarzt vor jedem Neujahrsfest zu einem „Seelengespräch“ bei Klein vorbei. Das ist ihm sehr wichtig, und er nervt schon Wochen im Voraus seine Angehörigen und Freunde mit dem Thema. Umso erstaunlicher, dass er dieses Mal nicht zum vereinbarten Termin in Zürich erscheint. Abgesagt hat er auch nicht, und Rabbi Klein macht sich Sorgen. Aus gutem Grund! Viktor Ehrenreich ist ermordet worden – jemand hat ihn in seiner Villa erschossen.

Ehrenreich war wohl ein bisschen eigen und mit allen möglichen Leuten zerstritten. In seiner Ehe lief’s auch nicht so gut, aber er war ein rechtschaffener und wohltätiger Mann und niemand kann sich vorstellen, wer ihn aus welchem Grund getötet haben könnte.

Rabbi Klein als Polizeispitzel?
Rabbi Klein fährt zur Witwe des Ermordeten, um ihr Trost zu spenden – und seine Frau Rivka kann den aufziehenden Ärger schon riechen. Sonja Ehrenreich überredet Klein, auf Viktors Beisetzung die Trauerrede zu halten – was ihn in Konflikt mit dem eigentlich zuständigen Rabbiner bringt. Als hätte er daheim nicht schon genügend Probleme! Es kommt noch besser: Auf dem Friedhof passt ihn der Polizeidienstleiter von Lörrach ab und will alles Mögliche von ihm wissen. Der Mann ist dem Rabbiner auf Anhieb unsympathisch. Was soll er ihm denn erzählen? Der Gemütszustand, die Kindheit oder die religiösen Ansichten des Zahnarzts sind für die Polizei sicher nicht relevant. Und über Feinde und mögliche Mordmotive weiß er nichts.

Okay ... Sonja litt unter ihrer Kinderlosigkeit und war deswegen depressiv. Und ihr Mann war nicht für eine Adoption zu begeistern. Aber das ist ja kein Grund für einen Mord. Sonja kann ihren Mann sowieso nicht erschossen haben – sie war zur Tatzeit im Ausland.

Der Rabbiner denkt nicht daran, die Witwe für die Polizei auszuhorchen. Nachforschen wird er trotzdem. Den Ermittlern traut er nämlich nichts zu. Wenn er wissen will, wer seinen Bekannten ermordet hat, wird er der Sache schon selbst nachgehen müssen.

Als erstes hört er sich die Aufzeichnungen der „Seelengespräche“ an. Die hat er immer aufgenommen, um sich in Vorbereitung auf das anstehende Gespräch die Inhalte des Vorjahrs in Erinnerung zu rufen. Das könnte sich jetzt als hilfreich erweisen.

Führt die Spur in den Kongo?
Führt die Spur in den Kongo? Dort hat Viktor ehrenamtlich eine Hilfsorganisation unterstützt und in seinem Urlaub kostenlos Menschen zahnärztlich behandelt. Hat er vielleicht bei einem seiner Auslandseinsätze eine Schweinerei aufgedeckt? Es käme ja einiges in Frage: Politik, Wirtschafskriminalität, Umweltschutz, Arbeitsbedingungen ... Oder liegt das Mordmotiv gar nicht so weit weg?

Doch erst einmal gibt’s eine Zwangspause in Kleins privaten Ermittlungen. Eine organisatorische Panne bei den Vorbereitungen zum Laubhüttenfest Sukkot wächst sich dank ein paar intriganter Wichtigtuer aus der Gemeinde zu einem handfesten Skandal aus. Kleins Position steht auf dem Spiel. Er könnte entlassen werden. Seine Frau Rivka will, dass er nachgibt. Was macht denn ein arbeitsloser Rabbiner mittleren Alters? Der kriegt doch keinen Job mehr! Wovon soll die Familie mit zwei Töchtern in der Ausbildung dann leben? Rivkas mickriges Honorar als literarische Übersetzerin reicht vorn und hinten nicht.

Die Sache mit dem Totentanz
Der Rabbiner wähnt sich jedoch im Recht und weigert sich, sich bei den Honoratioren zu entschuldigen. Der Haussegen hängt schief. Dafür liefert ein Gespräch mit dem Basler Rabbiner Itamar Diamant ganz zufällig einen Hinweis im Mordfall Viktor Ehrenreich. Wenn der Zahnarzt vom „Totentanz“ gesprochen hat, hatte er offenbar nicht immer das Stück von August Strindberg im Sinn ...

Rätselhaft bleibt die Rolle des Ehepaars Kriesi, Sonja Ehrenreichs engsten Freunden – evangelikale Christen die mit einem etwas befremdlichen Youtube-Kanal ein Wahnsinnsgeld verdienen. Doch die beiden können noch so fromm tun, dem Rabbiner sind sie suspekt. Was ist hier Sein und was nur Schein? Und was will Klein überhaupt tun, falls er tatsächlich herausfinden sollte, wer der Mörder ist? Dem Blödmann von Kommissar wird er es ganz bestimmt nicht verraten!

Stress von allen Seiten
Dieses Mal kriegt’s der arme Rabbiner wieder von allen Seiten ab. Er meint es meist gut, aber das nützt ihm nichts: Die Gemeinde will ihm ans Leder, seine Frau ist sauer, die Kinder machen Schwierigkeiten, die Polizei geht ihm auf die Nerven – wie soll er sich da auf seine Arbeit konzentrieren und nebenbei auch noch den Mord an seinem Bekannten aufklären?

Mit wissenschaftlicher Akribie arbeitet er sich durch eine Vielzahl von Informationen, um sich am Schluss wieder mal zu fragen, ob er das Richtige getan hat. Wie man’s macht, ist es nicht recht. Das ist wohl die Geschichte seines Lebens.

Der böse Trieb
Action gibt’s hier keine. Das Interessante an dieser Reihe sind Gabriel Kleins Beobachtungen, Gedankengänge und Schlussfolgerungen, wobei das religiöse Thema, mit dem er sich derzeit beschäftigt in die Ermittlungsarbeit einfließt. In diesem Band geht es darum:
Rabbi Jehuda lehrte: In der Zukunft wird Gott den bösen Trieb holen und ihn in Gegenwart sowohl der Gerechten wie der Bösewichte schlachten. Den Gerechten wird er hoch wie ein Berg erscheinen und den Bösewichten wird er wie ein dünnes Haar erscheinen. Beide aber werden weinen. Die Gerechten werden weinen: »Wie konnten wir einen so hohen Berg überwinden?«, und die Bösewichte werden weinen: »Wie konnten wir über ein so dünnes Haar straucheln?« – Babylonischer Talmud, Traktat Sukka, 52a (Seite 5)

Mehr denn je ist es gut, dass die Bände dieser Reihe ein Glossar haben. Mit Feld-, Wald- und Wiesen-Kenntnissen vom Judentum kommt man nicht sehr weit. Ist man nicht religiös, wird’s ein bisschen eng. Aber mit ein wenig Mut zur Lücke und den Begriffserklärungen im Anhang kommt man dann schon mit. In Menschlichen sind wir eh alle gleich, egal, woran wir glauben (oder auch nicht) und welche Traditionen wir pflegen.

Diese selbstgerechten Kerle!
Ein bisschen vermisse ich die treffenden Gehässigkeiten von Gabriels Kleins Vater. Seine boshaften Bemerkungen über die Vorgänge in der Gemeinde waren für mich stets das Salz in der Suppe. Und zu dem, was sich die wichtigen Herren in dieser Geschichte herausnehmen, hätte er bestimmt eine Menge zu sagen gehabt. :-) Irgendwann muss diesen Kerlen ihre unerträgliche Selbstgerechtigkeit doch auf die Füße fallen! Na, vielleicht im nächsten Band.

Der Autor
Alfred Bodenheimer, geboren 1965 in Basel, schreibt am liebsten mit Musik in den Ohren, wobei er je nach Stimmung zwischen »Urzeiten-Rock, israelischen Ikonen und süßlichem Klavierkitsch« variiert. Das literarische Schreiben muss er wegen seiner Arbeit als Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an der Universität Basel auf wenige Wochen im Jahr beschränken. Dann allerdings gerate er in einen Zustand ungebremster Euphorie. Bodenheimer, der eine traditionelle jüdische Ausbildung erhielt und sich selbst als »modern orthodox« bezeichnet, pendelt seit einigen Jahren zwischen Basel und Jerusalem, wo seine Familie lebt.
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