Die Erinnerung ist in dir

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Talisa
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Die Erinnerung ist in dir

Beitrag von Talisa »

===Antonio Lobo Antunes "Die natürliche Ordnung der Dinge"===
btb Verlag, ISBN 3-442-73389-8,350 Seiten

Eigentlich war es der Titel der mich angeprochen hatte, und mehr ein
philosophisches Buch erwartet. Den Autor kannte ich bis jetzt nicht.

Antonio Lobo Antones ist ein renommierter portigiesischer Schriftsteller, der die literarische Welt Portugals für das Publikum lesenwert macht. In seinen Romanen schreibt er sehr präzise und differenziert über die portugiesiche Gesellschaft.Bildern die sich ins Fratzenhafte steigern, und Dämonen des Landes heraufbeschworen: Untergangsgeschichten, wo die triffigste Metapher die Familie ist.



(Inhaltsangabe)
In diesem Roman verwendet der Autor Monologe von acht Personen, die sich in einem Netzwerk der Erinnerung verweben. Vorrangig ist der Ich-Erzähler, ein älterer Herr, der in einem Apartment am Tejo lebt. Seiner jungen Geliebten erzählt er nachts von seiner Kindheit.

Leseprobe:
"Bis ich sechs Jahre alt war Iolanda, kannte ich weder die Familie meiner Mutter noch den Duft der Kastanienbäume, den der Septemberwind von Buraca herüberwehte mit dem Geruch der Schafe und Ziegen, die, von einem Altar mit Schirmmütze und den Stimmen des Todes vorwärts getrieben, über die Calcada zum aufgelassenen Friedhof bis zu düsteren
Flecken gerinnen ließ."

Erinnerungen von Menschen die davon besessen sind, von den Eindrücken ihrer Vergangenheit in Lissabon, in denen ihnen auch die einschneidensten Erfahrungen zerfallen.

Für die Geliebte ist es eher lästig, und nur "der bei mir schläft". Sie zuckt nur mit den Schultern, verzieht den Mund und blickt verächtlich zur Seite. Der Geliebte schweigt beschämt.

Erinnerungen sind gleichsam Therapie und ein Ventil sich mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.

Leseprobe:
"...während ein Weltuntergangswetter über den Städtchen niederging, und der Regen ein Stück Mauer zerfraß, einen Scheitel ins Haar grub, eine schwarze Krawatte umband und mich im Jeep der Guarda Republicana zur Kirche brachte, einen Alptraumweg entlang."

Seine Erinnerungen sind die Geschichte Portugals. Vergegenwärtigt erzählt er in Zeitsprüngen sein Leben. Der Ich-Erzähler springt zwischen dem Gestern und Heute.Eine Lebensspanne von der Salazar- Diktatur über die Nelkenrevolution bis zu den nicht zuletzt durch den EG-Beitritt Portugals verursachte Modernisierungen.

Für seine junge Geliebte, die im Nuttenviertel von Lissabon arbeitet, und teilt er eigentlich nur das Bett. Ein Leben von gähnender Langeweile.Der Ich-Erzähler ist völlig verarmt, und empfindet es als Ungerechtigkeit was ihm widerfahren ist. Er schnorrt die Leute an, und träumt davon einen Fernkurs für Hypnose aufzubauen. Seinen Schriftstellerfreund erzählt er das einst Offizier war, und verhaftet wurde.Die Revolution hat ihm Unrecht getan , und die Menschen beschimpfen in als Mörder und Gauner.

Leseprobe:
"Nein, protestieren Sie nicht, tadeln Sie mich nicht. Ehrenwort, ich mache alles Menschenmöglich und dennoch ist es nun einmal so, die Erinnerung hat ihren eigenen Mechanismus, ihren Rhytmus, ihre Gesetze,ihre Laune, wir werden den Kerl dann finden, wenn wir am wenigstens damit rechnen, an irgendeinen Ortder Vergangenheit."

Tief hinein schlüpft er in die Spuren seiner Erinnerungen, erzählt seiner Geliebten von seiner Kindheit. Es könnte immer so weitergehen, wenn da nicht ihr Zuhälter wäre. Vielleicht sollte er doch woanders neu anfangen, Er beschließt zu bleiben, dafür hängt er viel zu sehr an Iolanda. Die Gegenwart kann der Ich-Erzähler nicht einfach auschließen. Seine Gebrechlichkeit nimmt ihn gefangen, und er spürt das sein Ende naht.

Leseprobe:
"Die Finsternis ließ mich nicht deutlich sehen, ließ mich das Seenotrettungssboot, die Fischkutter, die Stromschwalben, die Deinen, die römische Brücke und die Esplanade von Tavira nicht deutlich
sehen, ließ mich wie Bachstelzen auf den Felsen,die Fischkörbe, die Sonne auf den Wellen und die Ebbenkrebse nicht deutlich sehen, ließ mich meinen Bruder Jorge nicht deutlich sehen, der lächelnd auf mich wartete, doch es lohnte nicht mehr, ihn zu rufen, denn ich war schon fast bei ihm, denn ich war schon fast am Meer."


Damit geht ein wunderbare Erzählung, die sich nicht immer leicht lesen ließ.

(Meine Meinung)
Antonio Lobo Antunes Romane haben immer einen biografischen Hintergrund, stets gilt seine Aufmerksamkeit denen, die im Ozean des Schweigens zu versinken drohen. Indem er einen alternden
Ich-Erzähler durch die Handlung führt, springt er auf verschiedende Zeitebenen.
Damit der Leser sich nicht vollends verliert, hat er das Buch in fünf Abschnitte unterteilt. Das war sehr raffiniert.
Abwechselnd kommen jeweils zwei Personen zu Wort, redende, nicht handelnde Personen, deren Gegenwart sogleich überschwemmt wird von dem, was war. Der ehemalige Geheimpolizist der Diktatur beschreibt seine groteske Existenz, in dieser Kammer.Sein Bruder Jorge wurde dagegen vom Regime in den Selbstmord getrieben.
Alle acht Personen in der Handlung sind irgendwie durch familäre oder andere Beziehungen miteinander verknüpft.
Am Anfang eines Abschnitts taucht dann entweder die Geliebte, seine Tochter oder sein Schriftstellerfreund auf.
Immer wieder Personen, mit denen er einen Monolog führt.Diese Stimmen die aus dem Nichts auftauchen, und genauso wieder verschwinden, fügen die losen Informationen wieder zusammen.

Das war für mich teilweise sehr schwierig, weil ich so gut wie nichts über die Geschichte Portugals weiß.Daraus ergaben sich für mich einige Lücken.

Hervorragend ist die brilliante Schreibweise des Autors. Sätze die genau gelesen werden wollen. Teilweise ist der Erzählfluss sehr schnell, fast gedrängt.
Seine Wortwahl ist ausgeklügelt: " die Helligkeit des Erdgeschosses erstarb mit den Streifen in diffusen Staubwolken." Obwohl es manchmal nicht immer direkt in die gleiche Zeitebene führt. Geschickt wird mit
Satzebenen gespielt und in einigen Abschnitte gibt es bestimmte Hauptwörter:mesneris, Zistrosen.

Zudem findet der Leser immer ein wichtiges Puzzlestück in einem Abschnitt, z.B in Kapitel 3 Vergangenheit-Haft-Gefängnis- unmenschliche Behandlung. Diese Hin-und Herspringerei war nicht leicht zu lesen.

Wer meint das die Erinnerungen eines alten Mannes nur traurig sein können, der irrt. Antonio Lobo Antunes verwendet eine humorvolle sarkastische Sprache und Parabeln. Er schafft Bildnisse um das Vergangene zu erzählen: eine Zirkuswelt, eine Schauspieltruppe, u.a.

Ebenso gibt es eine sprachliche Gewandheit, in manchen Kapiteln werden bestimmte Endungen benutzt: schrecktest,arbeitest, aufwärmest, klopfest.

Antonio Lobo Antunes hat damit wieder ein Buch geschaffen, das zum Nachdenken einlädt. Schon sein Roman "Judaskuß" fuhr wie ein Blitzschlag in die politische Stagnation Portugals ein. Es veränderte die literarische Landschaft, die in einer Erzähltradition des Realismus erstarrt war. In diesem Roman führt er das fort, indem er einen mononen Redefluss verwendet.

Talisa
(auch für ciao und yopi)
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