Und was is mit Rilke?
Es war mal wieder an der Zeit für den TÜV. Nicht mit dem Auto, denn ich bin so stark sehbehindert, dass ich nicht mehr fahren darf, nur mitfahren, sondern für den Lyrik-TÜV, denn Literatur ist mein Hobby. „Der Lyrik-TÜV“ heißt ein Buch von Steffen Jacobs, einem anerkannten Dichter, Lehrer und Kritiker, und das hatte ich vor langer Zeit gelesen, als Corona noch die Bezeichnung für ein Sonnenphänomen war und uns nicht das Leben zur Hölle machte. Während eines Lock-Downs liest man eher viel als wenig und ich las „Rilke und Rodin“ von Rachel Corbett. Eine äußerst gelungene Doppelbiographie zweier herausragender Künstler, die um das Jahr 1900 herum einander umkreisten. Als ich damit zu Ende war, wollte ich noch einmal das Kapitel „Rilke; Die Sonette an Orpheus“ bei Jacobs lesen, womit meine Misere begann.
Die Blinden-Hörbüchrei (BH) war gerade damit beschäftigt sich zu erneuern, zu modernisieren, so dass ich nicht via App auf den Bestand zugreifen konnte. OK, es ist LockDown, da hat man Zeit zu warten bis das Updaten der App da sein wird. Es kam, wurde geladen und ich verlor. Mein Handy war inzwischen nicht nur zu alt für die Corona-Warn-App, sondern auch zu antiquiert, um mit der modernen BH zurecht zu kommen. Die Website empfand ich ebenso als Zumutung für Blinde, war aber auch - zugegeben - mies gebahnt, denn ich wollte ja nur mal eben schnell dieses Kapitel im Lyrik-TÜV lesen, und kam nicht ran. Ich schrieb eine mail… Wurde auf ein nächstes Update vertröstet und las irgendein anderes Buch unterm Bildschirm-Lesegerät. Das Update kam, wurde geladen und ich war immer noch der Besiegte.
Aber ich kann hartnäckig sein, also befasste ich mich mit besserer Laune näher mit der Site und konnte das Buch darüber herunterladen. Prima! Aber wie abspielen? Mein PC ist noch ziemlich neu und, da ich es gewohnt war meine Bücher mobil über die App abzuspielen, verfügte noch nicht über einen DAISY-Player.
Im Netz gibt es alles, aber mir war das alles zu viel, ich streckte die Waffen und legte mich aufs Ohr. „Wie war das früher? CD bestellen, ja, eine Möglichkeit, die es noch immer gibt. Zwei Abspielgerät e sind auch noch da. Ach ja, die sind auch mit SD-Karten zu bestücken. Da könnte man doch…“ Ich spielte das heruntergeladene Buch auf eine Karte und steckte sie wieder ins Gerät. Tatsächlich! Da war es scher verständlich (ich bin auch hörbehindert) zu hören: „Der Lyrik-TÜV“ von Steffen Jocobs. Jetzt nur noch einen Kopfhörer und ich würde Rilke auf den Grund gehen können. Aber meine Kopfhörer waren inzwischen moderne Bluetooth-Geräte, mein Daisyspieler hatte aber noch eine althergebrachte Buchse, Klinke, 3,5 mm. Mist! Aber in über 50 Jahren Leben sammelt man ja so einiges an, im Nachtschrank war dann auch noch ein Kopfhörer mit Kabel. Rein damit und: weiterhin Tote Hose! Meine evidenzbasierten Versuche brachten es an den Tag: Die Kopfhörer-Buchse am Gerät war inn Mors. Wahrscheinlich über die Jahre zum ewigen Seelenfrieden kaputt oxidiert.
Der Rochen ist modern und hat ein neuestes, bestes und sicherstes Handy, das meins um ein paar Jahre in den Schatten stellt. Da funktionierte die neue BH-App, aber mich hatte jetzt der Ehrgeiz gepackt. Ich wollte es alleine und unabhängig schaffen. Ich kramte das Zweitgerät, groß, altbacken, schwer und fast noch analog, hervor. Kartenschlitz! Buchse! Und die funktionierte sogar. Ich hörte das Kapitel über Rainer Maria Rilke uns seien „Sonette an Orpheus“, der Gedichtband erschien 1923, drei Jahre vor Rilkes Tod.
Und, hat sich die Mühe gelohnt? Für mich ja, denn es kam etwas Interessantes dabei heraus.
Sowohl Corbett als auch Jacobs benennen eine übersteigerte Selbstverliebtheit als wesentlichen Charakterzug Rilkes. Beide gestehen dem Dichter eine Entwicklung von jungenhafter „reim dich oder ich fress dich-Romantik“ hin zum geläuterten Werk zu. Jacobs hinterfragt aber sogleich: „Hat er das wirklich?“ Diese Jugendsünden überwunden? Und kommt zum Fazit: Eigentlich nicht! Er war und blieb sein Leben lang ein Faulenzer, der zeitweise Gedichte aus sich heruausschleuderte, wie unter einem Diktat verfasste, um sich so als berufener Künstler allen bürgerlichen Konventionen entziehen zu können. Bei Recherche, Feinarbeit zu Metrik, Rhythmus und Syntax habe er schnell das Weite gesucht. Am Ende heißt es zumindest: „Was hätte da nicht alles herauskommen können, wenn der Faulenzer seine Eingebungen mal richtig nach- und durchgearbeitet hätte.
Corbett geht weniger technisch-formal an die Sache heran, und sieht Rilke mehr als Opfer seiner Kindheit denn als Faulpelz. Sie beschreibt mehr, wie Rilke durchs Leben gefahren ist, Jacobs prüft nur kennerhaft das Auto, das der Wort-Ingeneur abgeliefert hat. Zur Frage ob Faulenzer oder nur dem Umständen entsprungener Melancholiker, der aber auch viel und hart gearbeitet hat, sei eine Facette aus Rilkes Biographie näher beleuchtet.
In finanziell prekärer Lage erhält Rilke von Rodin die Stelle eines Sekretärs angeboten, Rilke nimmt an. Rodin wird krank und die zu erledigende Korrespondenz nimmt bald deutlich mehr Zeit als die vereinbarten 2 Stunden am Tag ein.
An dieser Stelle lässt Jacobs den Dichter die Flinte ins Korn werfen, denn mehr als 2 Stunden Arbeit ist für einen Künstler seines Ranges nicht zumutbar. Bei Corbett geht die Geschichte weiter. Nach seiner Genesung entlässt Rodin Rilke aus einem nichtigen, missverständlichen Grund und Rilke geht tief gekränkt.
Es ist ein großer Unterschied, ob jemand kündigt oder gekündigt wird. Corbetts Recherche macht einen sehr soliden Eindruck und wird durch zufällig vorhandenes Detailwissen immer wieder gestützt, ist also für mich nicht anzuzweifeln.
Und wer 6 Sonette am Tag schreibt, so oberflächlich sie auch sein mögen, der ist vielleicht zu bequem, um nachzuarbeiten, aber bestimmt auch kein Faulpelz.
Es handelt sich bei Gedichten eben auch um Poesie, deren Schönheit mit TÜV-Methoden nur unzulänglich zu erfassen ist, das haben wir im „Club der toten Dichter“ doch schon bei Mr. Keating gelernt.
Rilkes Ruhm ist für Jacobs nicht gerechtfertigt, was er in einem sarkastisch- ironischem Tonfall darlegt, für Corbett geht das so in Ordnung. Für ein eigenes Urteil bleibt nur die Lektüre der Gedichte selbst.
Ein Faulpelz, der dies hier nicht groß durchgearbeitet hat, sich dafür aber mit einem neuen Hany belohnen wird