Besser als Sex

Sie schreiben selbst? Stellen Sie es anderen vor und diskutieren Sie darüber.
Antworten
Benutzeravatar
don.mombasa
Beiträge: 4
Registriert: Do 22. Nov 2007, 18:57
Wohnort: Mainz

Besser als Sex

Beitrag von don.mombasa »

Na, da klickt man gerne drauf, nicht wahr?

Wie dem auch sei. Das hier ist mein erstes Mal, und ich bin ja schon ein bißchen aufgeregt. Aber es geht. Diazepam, Valium, eine halbe Flasche Brandy drauf, dazu zwei Bier. Ich bin also einigermaßen ruhig; seit ein paar Minuten ist auch die Transpiration zurückgegangen.

In Kürze ein paar Worte dazu, was mich umtreibt: Im richtigen Leben bin ich Tierarzt in einem Schlachthof. Das klingt nicht lecker, und es ist auch nicht sehr appetitlich, aber ich mache es gerne. Wenigstens muß ich da keinen Kühen beim Gebären helfen - eher umgekehrt. Auf Dauer ist das Berufsleben aber recht eintönig. Immer nur Fleisch, Blut, ab und zu Mobbing, Schwarzarbeiter, Verstöße gegen die EU-Hygienebestimmungen... naja, Ihr könnt euch sicher vorstellen, daß das öde ist. Also habe ich letzte woche angefangen, Lyrik und Prosa zu schreiben. Eine Freundin hat mir dazu geraten. Sie selbst besitzt ein Nagelstudio (für Finger- und Fußnägel) und schaut sich in ihrer Freizeit exotische Blumen an, die sie zu Sonetten inspirieren. Sie meint, man könne so seine Aggressionen kanalisieren und abbauen. Ich habe zwar keine Aggressionen, aber egal. Jetzt habe ich ein bißchen was geschrieben, finde aber keinen, der sich dafür interessiert. Meine Nagelstudiofreundin ist unglücklicherweise gestern verstorben. Shit happens. "Lebbe geht weider", gell, aber wir sind ja hier nicht im Fußballforum... hm, sollte ein Scherz sein... das mit dem Fußball. Okay. Ich traue mich jetzt mal...

Noch zwei Anmerkungen: 1.) Ich schreibe nach alter Rechtschreibung und hoffe, das ist hier gestattet. 2.) Mein Text ist in keiner Weise dazu gedacht, den Bundespräsidenten zu verunglimpfen. (Ich bin deswegen mal angezeigt worden... dafür kann man echt in den Knast wandern! Scheiß Bundespr... äääh... hehe. Gut jetzt.)

--- MEINE ERSTE KURZGESCHICHTE ---

OHNE TITEL (*Anm.: Hab ich mal in einer Kunsthalle auf einem kleinen Schild gelesen, find ich super gelungen!)

Mutter taucht nicht ein in seine Gedanken heute morgen, vom Frühstück und dem Ei. Herr Ach mag es nicht essen, nimmt es dennoch zu sich, und reicht Mutter ihre cholesterinhaltige Mutmaßung zurück. Das ist es nicht. Sie behält sie bei sich, streng wie immer. Es gibt da keine Kompromisse. Zwar überkommt Herr Ach für einen Moment ein Gefühl des Ekels, im Mund, schmeckt nach altem Spiegelei. Manchmal ist das Aufstoßen nicht befreiend. Letztlich liegt das doch alles bloß an den Drahtkäfigen, dem Dreck, der Scheiße, in denen die Legehennen baden, Badehennenscheiße. Aber eben ökonomisch, sonst wäre es wirklich nur Sadismus. Oder, Mutter?

Herr Ach notiert wie gewöhnlich nach dem Frühstück das Frühstück. Alles abgemessen: 1 Ei (Batteriehaltung), 1 Scheibe Brot (Roggenmischbrot, 11,2 cm im Durchmesser) mit Butter und 1 Scheibe Geflügelsalami. ½ Scheibe Brot (s.o., 5,6 cm im Durchmesser) mit Butter. 1 Tasse Kaffee (200 ml, entkoffeniert). Eingenommen zwischen 7:43 und 7:51. Mutters Kopfschütteln fällt aus diesem Rahmen und erhebt sich vom Tisch, um bestimmte Dinge in den Kühlschrank zu räumen. Warum eigentlich entkoffeinierter Kaffee, will Herr Ach wissen. Jaja, das schwache Herz, die Vorsicht, aber Kaffee zum Frühstück muß schon sein. Er kann sich gerne ? betont gerne ? seinen eigenen Kaffee kaufen. Die Küche darf jedoch nichts und niemand durcheinanderbringen, auch kein fremder Kaffee. Bitte im eigenen Zimmer aufbewahren. Das leuchtet doch ein.

Mutter echauffiert sich über die Unordnung mit den Ordnern. Herr Ach wird ungerne abgelenkt wenn er seine Notizen einheftet. 320 ml Urin diesen Morgen, bitte Mutter! Das ist doch keine Unordnung! Warum heißt es denn ordnen? Einordnen, verordnen, anordnen, alles in Ordnung. Natürlich gibt es keine Widerrede. Die Ordnung im Wohnzimmer hat Vorrang vor der Ordnung in den Ordnern, schließlich muß man hier übereinkommen. Was ist mit dem Keller? Jaja, wegen Mutter darf es der Keller sein. Wenn Herr Ach nicht nachts die Treppe runterpoltert, nachts wacht Mutter nicht gerne auf. Das Einschlafen fällt ihr dann schwer, und außerdem das Herz, wo doch der Arzt gesagt hat: Ruhe! Daran muß man sich gefälligst halten, muß Einschnitte hinnehmen und auch schon mal zurückstecken. Das, so Mutter, solle Herr Ach sich gut merken: Einschnitte und zurückstecken! Ins Büro diesen Morgen? Ja, sicher. Wohin sonst. Viel Arbeit? Vergleichsweise. Aber nicht überviel, also nicht zu viel, nicht mehr als sehr viel. Gut. Also dann, Mutter.
Verfluchte Zivilisationskrankheit Morgenverkehr! Herr Ach sagt es mit aller Deutlichkeit, jemand muß das auch mal sagen, und wer sonst, wenn nicht er? Schließlich ist er die einzige Person im Wagen. Der Weg ist jeden Morgen der gleiche. Im Radio sorgt auch niemand für Abwechslung, und Herr Ach kann doch den Sender wechseln wenn es ihm nicht passt. Schließlich ist das Radio keine Sache für ihn, sondern für alle. Aber wenn alle Abwechslung verlangen? Der Moderator geht nicht darauf ein. Lecken sie mich doch am Ärmel, Herr Ach. Und nun die Verkehrsnachrichten ? betont Verkehrsnachrichten. Radio aus. Manchmal muß man Macht einfach nur ausüben. Verkehrskollaps vor der Brücke, natürlich. Genau jetzt, genau vor dieser Brücke. Wozu stehen die Feuerwehrleute denn da vorne rum, mit diesem Sprungtuch? Wozu steht die Selbstmörderin, oder was auch immer die darstellen will, auf der Brücke und nicht auf der Straße? Auf der Autobahn spazierenzugehen wäre in diesem Falle ökonomischer als von der Brücke zu springen. Unten, bei den Ampeln fährt doch niemand schnell. Da kann jeder noch bremsen, und es gibt bloß Versicherungsschäden. Aber wer denkt schon ökonomisch? Verschwenderwelt.

Entschuldigung, jaja, Selbstmörderin. Ausgerechnet auf dieser Brücke, um diese Zeit, sagt der Chef. Herr Ach lügt nicht, auch wenn die Wahrheit wie eine Lüge daherkommt. Wenigstens kommt sie daher, Chef. Aber sowas denkt man still, für sich. Ein alter, verschwitzter Lustmolch mit Hornbrille, der mit seinem Kümmerrüssel über Prostituierte herfällt und grunzt wie die alte Sau, die er ist. Vorgesetzter kommt nun mal von vorgesetzt, wie dem auch sei, seine Frau wird es wissen. Arbeit muß sein, weg mit dem Chef aus dem Endedreißigkopf und ab in die Teeküche. Wer hier tatsächlich Tee kocht, trinkt, oder an Tee denkt, wird totgemobbt bis er den Betrieb wechselt, sagt ein unsichtbares Schild in den Köpfen der Mitarbeiter. Kaffee, koffeinhaltig. Dazu ein Messbecher und der Notizzettel. 200 ml. Wer den Papierstapel auf den Schreibtisch draufgestapelt hat, bleibt ungeklärt fürs erste. Arbeitskollegen sind Leute, mit denen man zu tun haben muß, bevor man es will. Noch zu bearbeiten. Herr Ach arbeitet nicht gerne, dafür aber fleißig. Erfolgsorientiert, nicht gerne. Manchmal auch anderswo. Flexibel nennt der Chef das, und die alte Sau hat recht. Schön ist das heute, wo man hemmungslos frei ist und auch noch Geld dafür bekommt. Wovon sonst hätte Mutter das Wohnzimmer tapezieren lassen sollen. Rente? Die gehört nicht an die Wand sondern in den Garten, mein Junge. Du wohnst doch auch im Wohnzimmer, so Mutter, und damit Basta!

Frühstückspause trotz Frühstück, Mittagspause nicht warm, Feierabend und doch nichts zu feiern. Ab nach Hause. Auf der Gegenfahrbahn keine Spur von Selbstmörderinnen. Das gemäßigte Radioprogramm bleibt zu neutral um angreifbar zu sein, außerdem soll man defensiv fahren, denn obwohl jeder defensiv fahren soll, fahren viele offensiv, deshalb muß man defensiv fahren, das ist eben Rücksichtnahme.

Eine Frau hat angerufen. Wie sie heißt, Mutter? Eine Frau, sie kann sich Namen doch so schlecht merken. Herr Ach soll zurückrufen. Wie es im Büro war? Nicht anders. Jaja, das mit der Selbstmörderin kam schon im Radio. Diese Perspektivlosigkeit treibt die jungen Menschen alle in den Tod, meint Mutter. Der Verkehr auch, meint Herr Ach. Deswegen soll man defensiv fahren ? betont defensiv. Mutter hat klare Ansichten, auch nach der Augenoperation und trotz des schwachen Herzens. Einschnitte muß man hinnehmen, das solle Herr Ach sich gut merken. Im Wohnzimmer ist Kaffee, für nach dem Urinnotieren. Vielleicht auch mehr, das ist immer so ein Aufwand mit der Waage und dem Desinfektionsmittel. Schließlich ist das eine Küchenwaage, und Mutter weiß sowieso nicht, was dieser Wahnsinn soll. Kontrolle, sagt Herr Ach.

Seit Vaters Tod ist ohnehin alles anders geworden. Mutter behauptet das, sie macht es an belanglosen und überdies völlig natürlichen Sachverhalten fest, wie zum Beispiel dem, daß der alte Ohrensessel im Wohnzimmer immer leer ist abends. Irgendwie ist es klar: Sie meidet den Sessel der Erinnerung wegen und aus Sentimentalität, während Herr Ach ihn aus Gründen der Bequemlichkeit nicht benutzt. Der Garten verwildert trotzdem. Herr Ach versucht ihr auszureden, daß die Folgen des väterlichen Dahinscheidens derart gewaltig seien. Da, Mutter, der Ordner von vor sechs Jahren. Wie Herr Ach deutlich belegen kann, hat sich der Tod nicht auf sein Essverhalten ausgewirkt. Nahrungsmittelaufnahme konstant, wie die Jahresabschlußgrafik zeigt. Pack das weg, sagt Mutter. Na gut. Kaffee trinken gegen sinnlose Debatten über Sterbefälle und Wege der Verdrängung, entkoffeiniert und hauchdünn. Es kam ja so plötzlich, sagt sie. Herr Ach denkt, daß die Leber seines Vaters schon lange vor dessen Lebensende alles wusste ? er denkt es nur. Mutter will davon nichts hören, Alkohol trinkt sie schließlich auch, und ihr Bruder auch. Ohne davon zu sterben, Herr Ach müßte das doch einsehen können. Ja, klar. Und die Frau, die am Telefon war? Kein Name? Nein. Namen merken und, Herr Ach weiß schon, das schwache Herz. Es gibt weitaus ernstere Probleme als diesen Namen.

Mutter ist froh über den Tapetenwechsel im Wohnzimmer. Sie sagt es nicht oft, Lob spricht sie nicht gerne aus und sie bevorzugt es gleichfalls, eher die negativen Dinge im Leben hervorzuheben und allem mit pessimistischen Vorbehalten zu begegnen. Aber manchmal sitzt sie im Wohnzimmer und schwimmt mit ihren Augen davon, zu der neuen Tapete hin. Braune Blumen verschlingen beige Blumen verschlingen grüne Blumen verschlingen orange Blumen, von links nach rechts und von oben nach unten. Bahn für Bahn. Herr Ach begnügt sich mit flüchtigen Blicken, die Maler haben doch sauber gearbeitet. Vielleicht nicht gerne, aber sauber.

--- DAS WAR'S ---

Freue mich über Kommentare!

LG, Don
Ich gebe zu, daß ein anständiger Mensch verpflichtet ist, sich zu langweilen, aber dennoch?

(Dostojewski - Schuld und Sühne)
Benutzeravatar
don.mombasa
Beiträge: 4
Registriert: Do 22. Nov 2007, 18:57
Wohnort: Mainz

Beitrag von don.mombasa »

Muss noch was hinzufügen:

"Sie meidet den Sessel der Erinnerung wegen und aus Sentimentalität [...]"

Diesen Satz würde ich gerne umgebaut wissen, habe ich mir gerade beim erneuten Lesen überlegt, und zwar:

"Sie meidet den Sessel aus sentimentalen Gründen [...]"

Danke und LG, Don
Ich gebe zu, daß ein anständiger Mensch verpflichtet ist, sich zu langweilen, aber dennoch?

(Dostojewski - Schuld und Sühne)
Antworten