Ulrike Renk: Ulla und die Wege der Liebe. Eine Familie in Berlin (Band 3)

Stellen Sie ein Buch detailliert vor - mit Inhaltsangabe und Ihrem Urteil.
Antworten
Benutzeravatar
Vandam
Beiträge: 1603
Registriert: Do 22. Sep 2005, 15:40
Kontaktdaten:

Ulrike Renk: Ulla und die Wege der Liebe. Eine Familie in Berlin (Band 3)

Beitrag von Vandam »

Bild

[bUlrike Renk: Ulla und die Wege der Liebe. Eine Familie in Berlin (Band 3), Berlin 2022, Aufbau Verlag, ISBN 978-3-7466-3765-5, Softcover, 486 Seiten, Format: 13,3 x 3,9 x 20,5 cm, Buch: EUR 12,99 (D), EUR 13,40 (A), Kindle: EUR 9,99, auch als Hörbuch/Audio-CD lieferbar. [/b]

„Du bist eine wundervolle und fürsorgliche Mutter. […] Aber du bist auch Ulla – du bist Künstlerin, Gestalterin, Zeichnerin. Ohne Papier und Stifte wirst du unglücklich. Das muss Heinrich begreifen, und ich bin mir sicher, in der Tiefe seines Herzens weiß er es.“ (Seite 364)

In Band 3 geht’s um die Kinder und Schwiegerkinder des Künstler-Ehepaars Paula und Richard Dehmel und darum, wie sie mit Liebe und Trauer umgehen.

Heirat in weiter Ferne
Berlin/Hamburg 1919: Die Graphikerin Ursula „Ulla“ Stolte, die eine Art Ziehtochter der Schriftstellerin Paula Dehmel war, würde jetzt gerne ihre Schwiegertochter werden. Doch ihr Freund, der angehende Arzt Heinrich Dehmel, kommt einfach nicht in die Hufe! Es hat ja schon ewig gedauert, bis sein Verlöbnis mit Margarethe gelöst war. Dass er jetzt für Ulla frei ist, ist nicht sein Verdienst. Und nun wird und wird er nicht mit seinem Studium fertig. Solange er nichts verdient, kann er sich aber keine Wohnung und keine Familie leisten, also gibt’s auch keine Heirat. Von Ullas schmalen Einkünften als Graphikerin und Illustratorin kann nicht einmal sie selbst leben, geschweige denn eine ganze Familie.

Ulla ist geduldig. Die Familie ist ja noch in Trauer um die Mutter. In diesen Schmerz mischt sich eine Prise Habgier: Auch wenn Paula Dehmel keine Reichtümer besessen hat, wird eifersüchtig über die Verteilung ihres Erbes – ein paar Möbel und eine Wohnung – gewacht. Auf keinen Fall wollen die erwachsenen Dehmel-Kinder Vera, Heinrich und Lotti, dass die zweite Frau ihres Vaters, die überkandidelte Ida, sich etwas von Paulas Besitz unter den Nagel reißt. Die drei nehmen es Ida heute noch übel, dass sich ihre Eltern vor zwanzig Jahren ihretwegen getrennt haben.

Alle leben in Vaters Haus
Ida kann sehr unsensibel sein, aber sie liebt ihren Mann Richard und irgendwie auch ihre Stiefkinder. Wenn sie könnten, würden Vera, Heinrich und Lotti ihr allerdings aus dem Weg gehen, genau wie ihrem egozentrischen Vater, der immer seltsamere Ansichten entwickelt. Das geht aber nicht, weil keiner der Dehmel-Nachkommen finanziell auf eigenen Beinen steht: Vera hat den flatterhaften Allround-Künstler Tetjus Tügel geheiratet, Heinrich und Lotti sind noch in der Ausbildung. Also leben bald alle zusammen in Blankenese, im Haus von Richard und Ida Dehmel. Das führt unweigerlich zu Spannungen, was sich noch verschlimmert, als Richard zum Pflegefall wird.

In dieser Patchworkfamilie steht immer die Frage im Raum, wer wen mehr liebt und welche Art der Liebe die richtige oder zumindest die bessere ist. Ob Richard und seine erste Frau Paula zusammengeblieben wären, wenn sie ihre eigenen künstlerischen Ambitionen aufgegeben hätte und nur um ihn herumgeschwirrt wäre, wie Ida es tut? Hätte Paula seine Liebschaften dulden sollen? War es falsch, dass sie ihren Kindern mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als ihrem Mann? Ida hat es umgekehrt gemacht: Ihr Sohn aus einer früheren Beziehung wurde vom Personal aufgezogen und lief so nebenher. Für Ida kam immer Richard an erster Stelle.

Liebe und Freiheit
Wie viel Freiheit lässt man einander, wenn man sich liebt? Und ab wann ist es Gleichgültigkeit? Liebt Tetjus Tügel seine Frau Vera und seinen Sohn oder liebt er nur sich selbst? Er kümmert sich weder finanziell noch anderweitig um seine Familie. Aber er redet seiner Frau auch nicht rein. Sie kann weiterhin als Künstlerin tätig sein, auch wenn sie jetzt Ehefrau, Hausfrau und Mutter ist. (Sie muss sogar – sie braucht ja ein Einkommen!) Wie wäre das wohl, wenn Ulla mit Heinrich verheiratet wäre? Würde sie dann weiterhin zeichnen können und dürfen? Oder würde er erwarten, dass sie nur noch Arztgattin, Haushälterin und Mutter ist? In dem Fall viel Spaß! Ulla kann weder Ordnung halten noch einen Haushalt führen. Sie kann nicht einmal kochen.

Den Unterschied zwischen Theorie und Praxis und den wahren Wert von Versprechungen lernt Ulla nach der Hochzeit kennen. Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Von wegen! Schon beim ersten Kind sitzt sie in der Hausfrauenfalle und kommt gar nicht mehr zum Zeichnen. Heinrich bestimmt, wo sie wohnen und ob sie das zusammen oder zeitweise getrennt tun. Er erwartet einen perfekten Haushalt und wird immer nörgeliger und unleidlicher, als alles nicht so läuft, wie er sich das vorgestellt hat.

Der schreckliche Schwager
Klar, Ulla geht’s immer noch besser als ihrer Schwester Hilde, die von ihrem perfektionistischen Ehemann Helmuth schikaniert wird. Hilde ist eine weit bessere Hausfrau als ihre Schwester Ulla, aber einen keimfreien Haushalt, wie Dr. Helmuth Deist verlangt, kann sie nicht garantieren. Da ist er aber gnadenlos und lässt weder Wochenbett, Krankheit noch Kleinkinder als Entschuldigung gelten. Ulla versucht, ihrer Schwester zu helfen, doch sie erträgt weder Hildes dauerpräsente Freundin Marianne noch das gehässige, antisemitische Geschwätz ihres Schwagers. (Zur Erinnerung: Ullas Mann ist der Enkel eines Rabbiners.) Die häusliche Situation bei Deists eskaliert dramatisch …

Tod des Patriarchen
Dass es beim Dehmel-Clan in Blankenese nach dem Richards Tod nicht ebenfalls zur Eskalation kommt, ist Ulla zu verdanken. Sie vermittelt zwischen der Witwe Ida mit ihren durchgeknallten Ideen (das Theater mit der Urne!) und Richards aufgebrachten Kindern. Die müssen ihre Stiefmutter nicht lieben, sollten aber wenigstens ihre Position in der Familie respektieren.

Schwager Tetjus wird der Familienzirkus zu viel und er zwitschert ab in die Künstlerkolonie Worpswede. (Ich habe mal nach ihm gegoogelt. Ja, genau so habe ich mir sein weiteres Leben vorgestellt! Die Sorte kenne ich. :-D ) Und als Ullas Mann Heinrich die damals gerade modernen Séancen für sich entdeckt und auf diesem Weg Ungeklärtes mit seinen Eltern aufarbeiten will, gleitet er völlig ins Irrationale ab. Er merkt gar nicht, wie sehr er seine Frau mit seinem Verhalten verletzt. Ist das jetzt das Ende ihrer großen Liebe und ihrer Ehe …?

Wie wir wissen, ist EINE FAMILIE IN BERLIN die romanhafte Aufbereitung einer wahren Familiengeschichte. Es gibt also keinen künstlich generierten hochdramatischen Spannungsbogen. Was hier passiert, ist das Leben. Die Kernfrage ist, wie sich eine moderne Frau, die andere Ambitionen hat als einen makellosen Haushalt, durchs Leben kämpft, wenn ihr Umfeld mehrheitlich noch in gestrigen Vorstellungen feststeckt.

Freigeist oder Spießer?
Ja, in der Künstler-Boheme, zu der hier Anknüpfungspunkte bestehen, regt sich niemand darüber auf, wenn Paare unverheiratet zusammenleben oder eine Frau Kinder von einem anderweitig gebundenen Mann hat. Dass Künstlerinnen arbeiten, auch wenn sie einen Hausstand und Kinder haben, ist da völlig normal. Ulla ist mit diesen Künstler:innen zwar bekannt, befreundet oder verschwägert, aber sie lebt nicht ausschließlich in deren Welt. Sie ist auch die Ehefrau eines Arztes. Da gelten andere Maßstäbe.

Als Spross der Künstlerfamilie Dehmel kennt auch Heinrich die Künstlerwelt und die der braven Bürger. Ein Spagat dazwischen ist nicht zu schaffen. Man kann nicht gleichzeitig freigeistiger Künstler und angepasster Spießer sein. Heinrich und Ulla scheinen aber genau das zu probieren. Die Frage ist, ob sie daran scheitern oder ob sie sich für die eine oder andere Seite entscheiden.

Machos und Egozentriker
Das ist jetzt Band 3 der Reihe und bis jetzt hat mich jeder einzelne erwachsene Kerl aufgeregt, der darin vorkam. Alles Machos, Egozentriker, Narzissten, Besserwisser, Antisemiten und sonstige Armleuchter … gaaah! Vermutlich ist es unfair, die Männer von damals nach heutigen Maßstäben zu beurteilen. Sie sind Kinder ihrer Zeit. Manche werden zu Angstbeißern, wenn sie es mit Frauen zu tun bekommen, die ihrer Zeit voraus sind. Aber ein paar sind wirklich nur A***l*cher!

Jetzt bin ich gespannt darauf, wie’s weitergeht. Man kommt sich fast selbst schon wie ein Mitglied des Dehmel-Clans vor, wenn man eine so lange und intensive Zeit mit ihnen verbracht hat. Im nächsten Band rechne ich noch nicht mit modernen Männern. Da haben die Menschen andere Sorgen. Aber vielleicht in Band 5. Über Ullas Kinder habe ich nicht viel im Internet gefunden. Also vermute ich, dass sie die Künstlerszene mit ihrer hohen Egomanen-Dichte verlassen haben. Vielleicht ist „außerhalb“ die Chance größer, auf einen Mann zu treffen, der nicht glaubt, dass sich die Welt gefälligst um ihn zu drehen habe. Schauen wir mal!

»Heute haben Frauen sehr viel mehr Rechte, als Paula oder Ursula sie jemals hatten. […]. Heute kann man als Frau ganz anders agieren und auch reagieren. Aber die Gefühle … ja, die Gefühle – die Verzweiflung, der Hass, die Wut und vor allem die Liebe – die gab und gibt es damals wie heute. Und in diesen Gefühlen sind wir uns gleich. Über die Generationen hinweg.« - Ulrike Renk / Pressetext des Verlags

Die Autorin
Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren erfolgreichen Romanen Realität mit Fiktion. Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de
Antworten