Michael Ohl: Expeditionen zu den Ersten ihrer Art. Außergewöhnliche Tiere und die Geschichte ihrer Entdeckung

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Vandam
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Michael Ohl: Expeditionen zu den Ersten ihrer Art. Außergewöhnliche Tiere und die Geschichte ihrer Entdeckung

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Michael Ohl: Expeditionen zu den Ersten ihrer Art. Außergewöhnliche Tiere und die Geschichte ihrer Entdeckung, München 2022, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-29043-2, Hardcover mit Schutzumschlag, 302 Seiten, zahlreiche meist farbige Fotos, Illustrationen, Karten und Graphiken, Format: ‎19,7 x 2,5 x 25,2 cm, Buch: EUR 36,00 (D), EUR 37,10 (A).

„Seit der Antike bemühen sich Naturforscher, die Tier- und Pflanzenarten der Erde zu erfassen. […] Bislang sind rund 1,8 Millionen Tierarten entdeckt worden, und noch heute werden jährlich Tausende unbekannter Arten wissenschaftlich beschrieben und benannt, um sie als die Ersten ihrer Art zum Gegenstand der Wissenschaft zu machen. […]“ – Aus dem Klappentext.

Ein Buch über Forscher, Entdecker und Abenteu(r)er*) – das musste ich einfach haben! Den Augenblick, in dem man etwas außerordentlich Faszinierendes zum allerersten Mal sieht, habe ich mir schon immer sehr erhebend vorgestellt. Und mit jeder neuen Entdeckung aus der Tier- und Pflanzenwelt wächst ja auch unser Wissen über die Natur.

Wie man eine Art entdeckt

Der Band ist opulent bebildert, das Bildmaterial ist klug ausgewählt und aussagekräftig, nur die Einleitung, die ersten zwanzig Seiten sind für den Laien erst einmal ein kleiner Schock. Der Teil kommt schon sehr wissenschaftlich-kompliziert daher. Aber um die folgenden Entdecker-Abenteuer verstehen zu können, sollte man erst einmal wissen, was Taxonomie ist und dass eine entdeckte Art erst durch ihre offizielle Benennung die Bühne der Wissenschaft betritt – auch wenn sie davor schon Millionen von Jahren existiert hat und der lokalen Bevölkerung bekannt ist.

„Mit der veröffentlichten Benennung ist die neue Art ebenso wie ihr Entdecker dingfest gemacht worden. Niemand anders kann mehr ohne guten Grund die Entdeckung der Art für sich proklamieren, und niemand kann den Taufnahmen der Art ändern.“ (Seite 9)

Es sei denn, der Name erweist sich irgendwann als nicht korrekt. Dann muss man einen neuen vergeben. Was manche Verwirrung in der populärwissenschaftlichen Literatur erklärt.

Strenge Regeln, raue Sitten

Wenn also die Namensgebung Ruhm und Ehre verheißt, kann man sich schon denken, dass das Konfliktpotential bietet. Wer war wirklich der erste? Wer kann wem einen Fehler nachweisen? Und wer gilt eigentlich als Entdecker? Der, der das unbekannte Tier sichtet, fängt und erlegt? Oder der, der’s später identifiziert, benennt und beschreibt? Das können ja verschiedene Personen sein.

Was ich auch nicht auf dem Schirm hatte, obwohl es naheliegend ist: Viele der großen exotischen Tiere wurden während der Kolonialzeit entdeckt. Ja, klar: Da kamen die Europäer auf fremdes Terrain! Das heißt aber auch, dass da nichts fotografiert, gefilmt, in natürlicher Umgebung beobachtet, lebendig gefangen und nach Europa geschickt wurde. Was man noch nie gesehen hatte, wurde abgeschossen, so gut wie möglich konserviert/präpariert und per Schiff zu den heimischen Experten verfrachtet. Wie es dort ankam, war manchmal wenig appetitlich und nur bedingt aussagekräftig. Das waren raue Sitten damals. Abenteuerlich war’s auf jeden Fall, wie man im Folgenden sieht!

Abenteuer in Indonesien

Zoologe Gerd Heinrich (1896 – 1984) hat kein Interesse an experimenteller Laborbiologie. Er will aktiv nach den Wundern der Natur suchen. Als er den Auftrag bekommt, auf die indonesische Insel Sulawesi zu reisen und seltene und unbekannte Vogelarten aufzuspüren, ist er sofort Feuer und Flamme. Vor allem auf zwei bestimmte Rallen-Arten legt sein Auftraggeber wert.

Im März 1930 geht es los. Mit von der Partie: Ehefrau und Schwägerin, beides ausgebildete Tierpräparatorinnen. Zwei Jahre lang schlagen sie sich mit Hilfe Einheimischer kreuz und quer durch die Wildnis Indonesiens – unter widrigen Bedingungen. Sie entdecken eine Menge interessanter Arten, nur die vermaledeiten Schnarchrallen lassen sich nicht blicken. Und dann, am letzten Tag vor der Abreise … Ja, okay, am Schluss seines Expeditionsberichts dramatisiert Gerd Heinrich wohl ein bisschen. Absolut kinotauglich, ganz ohne Übertreibung, ist jedoch die Geschichte, wie er während des Zweiten Weltkriegs in Westpreußen seine Insektensammlung rettet. Abenteuer pur!

Selten – oder nur selten sichtbar?

Weniger Drama aber eine Menge Rätsel gibt’s rund um das Insekt Pseudimares aphrodite. Das wurde in den 1930er-Jahren im Süd-Iran entdeckt. Wie kann es dann sein, dass auf einmal eines in Marokko auftaucht? Und wie kommt’s, dass auf einem venezianischen Deckengemälde aus dem 18. Jahrhundert eindeutig diese Art von Netzflüglern abgebildet ist? Ist es möglich, dass die Art gar nicht so selten ist, sondern aus irgendwelchen Gründen nur selten gesichtet wird?

Wild und ungemütlich wird’s wieder bei den Expeditionen nach Neuguinea. Aber die Strapazen lohnen sich, weil es dort eine besonders artenreiche und wenig erforschte Biodiversität gibt. Auf Schritt und Tritt entdeckt man Neues: Nasenfrösche, riesige Ratten, bunte Paradiesvögel – und Baumkängurus. Unter anderen eines, von dem nach der Erstbegegnung kein Exemplar mehr gesichtet wurde, 90 Jahre lang …

Faszinierend und schrecklich zugleich

Faszinierend und schrecklich zugleich ist das Kapitel über die Entdeckung der Gorillas. Ich sagte schon: Das war während der Kolonialzeit. Die eindrucksvollen Tiere wurden gesehen und sofort abgeknallt. Die Fotos, auf denen Männer stolz mit einem toten Gorilla posieren, sind heute nur schwer auszuhalten. Genau wie die sensationslüsterne bildliche Darstellung der friedlichen Pflanzenfresser als zähnefletschende Monster.

Die Entdeckung der riesigen Menschenaffen war eine Sensation und die damals Beteiligten waren Kinder ihrer Zeit. Man sollte sie nicht aus heutiger Sicht verurteilen, aber man kann sich dem kaum entziehen. Bei der Suche nach Okapi und Zwergflusspferd ging’s übrigens nicht viel anders zu als bei der Entdeckung des Gorillas. Und wer könnte es den Wissenschaftlern von damals verübeln, dass sie an einen Scherz glaubten, als sie zum ersten Mal ein präpariertes Schnabeltier sahen?

Aufregende Momente

„Die Beschreibung eines neuen Stammes ist auch deshalb etwas so Besonderes, weil jeder neue Hauptast im Baum des Lebens Folgen für das Verständnis der Evolution der Tiere haben kann.“ (Seite 118)

Natürlich gibt’s auch heute aufregende Momente im Leben von Wissenschaftler:innen. Wenn sie beispielsweise einen neuen Stamm oder eine neue Klasse entdecken. Wie die Lehrerin Jill Yaeger: Sie hat in den 1970er-Jahren beim Tauchen in der Karibik Höhlenkrebse gefunden, die nicht nur unbekannter Art waren, sondern nicht einmal in die damals bekannten Klassen der Krebse gepasst haben. Das ist aber eher eine akademische Aufregung. 😉 Mit Abenteuer in der Wildnis hat das nicht viel zu tun. Hier geht’s um winziges Getier, das im Wasser lebt.

Was, die gibt’s noch? – Lebende Fossilien

Groß ist das Staunen in der Fachwelt, wenn man Tiere entdeckt, die man bislang nur als Fossilien gekannt hat. Pfeilschwanzkrebse zum Beispiel. Die gab’s schon vor 150 Millionen Jahren. Sie sind heute noch quicklebendig und scheinen sich nicht groß weiterentwickelt zu haben. Warum sollten sie auch? Wir kennen das: Wenn es keinerlei Druck aus dem Umfeld gibt, besteht auch keine Notwendigkeit zur Veränderung.

Ein Zufallsfund ist in den 1930er Jahren ein lebender Quastenflosser, den man auch für längst ausgestorben gehalten hat. Er geht Fischern ins Netz, die die Leiterin des East London Museums kontaktieren. Sie hat auf die Schnelle keine andere Möglichkeit, als den Fisch flüchtig zu skizzieren und die Zeichnung an einen Fachmann zu schicken. Angemessen konservieren kann sie das Tier nicht. Der Experte bekommt den Brief leider erst Monate später. Er weiß zwar, worum es sich handelt, aber beweisen kann er das erst, wenn sich noch weitere lebendige Quastenflosser finden lassen. Eine abenteuerliche Suche beginnt …

Es gibt noch vieles zu entdecken. Beeilen wir uns!

Die Entdeckergeschichten sind spannend, lehrreich und hochinteressant, wenn auch stellenweise für den Laien ein bisschen hoch. Auch wenn wir nicht alles in allen Einzelheiten verstehen: Wir staunen über die wunderbare Vielfalt der Natur, wir werden uns der Tatsache bewusst, dass es immer noch sehr viele Arten zu entdecken gibt – und wir ahnen, dass wir uns damit besser beeilen sollten. Sonst sind manche davon schon ausgestorben, bevor wir eine Chance hatten, sie überhaupt kennenzulernen.

* Das Gendern kann ich mir hier sparen, es geht fast nur um Männer.

Der Autor

Prof. Dr. Michael Ohl, geboren 1964, ist Kurator und Wissenschaftler am Museum für Naturkunde in Berlin und war dort Mitbegründer des Zentrums für Integrative Biodiversitätsentdeckung. Zudem ist er außerplanmäßiger Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ohl forscht zu Themen der Evolutionsbiologie von Wespen, der Systematik und Taxonomie sowie zur Wissenschaftsgeschichte. Er wohnt mit seiner Familie im Großraum Berlin.
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