Helen Pilcher: Im Takt der Natur. Rhythmen und Zyklen des Lebens

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Vandam
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Helen Pilcher: Im Takt der Natur. Rhythmen und Zyklen des Lebens

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Helen Pilcher: Im Takt der Natur. Rhythmen und Zyklen des Lebens oder warum Koalas lange schlafen. OT: How Nature Keeps Time. Understanding Life Events in The Natural World, aus dem Englischen von Monika Niehaus, Martina Wiese und Coralie Wink, Bern 2023, Haupt Verlag, ISBN: 978-3-258-08340-7, Hardcover, 208 Seiten mit farbigen Fotos und Infografiken, Format: 16,1 x 2,3 x 23,9 cm, EUR 29,90.

Wissend, dass in der Natur alles mit allem irgendwie zusammenhängt, hatte ich hier eine Fülle von skurrilen Fakten samt dazugehöriger Erklärung erwartet – zum Beispiel, um beim Buch-Untertitel zu bleiben: „Koalas schlafen so lange, weil …“. Und dann kommt eine Information, die die Leser:innen denken lässt: „Wow! Aber klar, eigentlich logisch.“ Und schon rennt man los, verblüfft und nervt sein Umfeld mit diesem Wissen und fühlt sich absolut quizshowtauglich. 😉

Ganz so funktioniert das Buch nicht. Es ist sehr faktenreich und informativ, aber für den Leser mit etwas Arbeit verbunden. Wirklich mundgerecht bekommt man die Infohappen nicht serviert. Es gibt sechs Kapitel/Themenbereiche und auf nahezu jeder Doppelseite muss man sich in ein neues Schaubild eindenken. Ich weiß nicht, wie’s anderen geht, aber ich brauche immer ein bisschen Orientierungszeit, um zu verstehen, worum es überhaupt geht. („Was sind das für Einheiten?“ – „Was bedeuten die Farben?“ – „Wo ist bei diesem Diagramm der Startpunkt?“ - „Und wieso läuft der Zeitstrahl von rechts nach links?)

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Doppelseite/Infografik, Foto: E. Nebel, (c) Haupt Verlag

Erstes Kapitel: Evolutionäre Zeitspannen

„Evolutionäre Zeitspannen zeichnen Geschichten von globalem Maßstab nach, wie den Landgang des Lebens, das Auslöschen von Arten und das Aufkommen eines Primaten, der mächtig genug ist, die Erde zu zerstören.“ (Seite 8 )

In diesem Kapitel geht’s um die Entstehung der Welt, um die des Lebens, um Zeitalter, Geologie, natürlich um die Evolution, um Saurier, Fossilien und ums Aussterben. Am Durchschnittsleser, der kein spezifisches Interesse an diesem Themenkreis hat, könnten die hohen Zahlen und die komplizierten Fachbegriffe etwas vorbeirauschen. Ich gestehe, dass ich diese Fakten hier fast so schnell vergesse, wie ich sie gelesen habe.

Je näher das Kapitel der Gegenwart kam, desto fassbarer und interessanter fand ich es: Wann, wo, wie und warum haben sich Wildtiere zu Haustieren entwickelt? Und ist es tatsächlich möglich, dass es weniger als ein Menschenalter braucht, um eine Wildtierart zu domestizieren?

Zweites Kapitel: Ökologische Zeitspannen

„Ökologische Zeitspannen beschreiben die Dynamik von Ökosystemen. So gestalten Biber ihr […] Süßwasser- Ökosystem in wenigen Wochen, und die verwesenden Überreste eines Blauwals können ein Ökosystem in der Tiefsee schaffen, das jahrzehntelang für Leben sorgt.“ (Seite 8 )

Hier geht es jetzt darum, dass alles miteinander verknüpft ist. Menschen sind nicht unbedingt begeistert, wenn Biber binnen weniger Wochen eine Landschaft nach ihren Bedürfnissen umgestalten. Da gibt’s Interessenkonflikte. – Ein toter Wal, der auf den Meeresboden gesunken ist, ernährt über hundert Jahre hinweg bis zu vierhundert verschiedene Spezies. Unter anderem ein Wesen namens Osedax mucofloris – die „knochenfressende Rotzblume“. Sowas merke ich mir! 😊

Wir erfahren, wie lange es dauert, bis ein Wald sich von einem Brand erholt, wie man einen Regenwald wieder aufforstet und was es für ein Ökosystem bedeutet, wenn eine einzelne Tierart ausstirbt. – Erfolgsgeschichten aus dem Artenschutz sehen wir hier auch.

Drittes Kapitel: Lebensspannen

„Lebensspannen […] bezeichnen die Zeit zwischen Lebensanfang und -ende. Eine adulte Eintagsfliege erlebt nicht einmal einen ganzen Tag, wohingegen der älteste lebende Einzelbaum über 4.500 Jahre alt ist.“ (Seite 8 )

Hier sind schon eher die schrägen Fakten zuhause, die ich mir erhofft hatte. Es fängt mit Altersrekorden an: mit einem fast 400 Jahre alten Grönlandhai, einer 500jährigen Islandmuschel, mit unterseeischen Röhrenwürmern, die Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende leben. Von Bakterien, die Millionen von Jahren alt werden können, ganz zu schweigen.

Klonkolonien von Pilzen, Bäumen und Seegras zählen zu den ältesten bekannten Organismen der Erde. Und wir reden hier von bis zu 135.000 Jahren! Am anderen Ende der Skala sind die Eintagsfliegen, deren Leben als adulte Tiere von wenigen Minuten bis mehrere Tage währt.

Besonders faszinierend sind meines Erachtens die unsterblichen Quallen Turritopsis dohrnii. Wenn die alt werden oder verletzt sind, drücken sie quasi eine Rückspultaste, versetzen sich in ein früheres Entwicklungsstadium und fangen mit ihrem Leben von vorne an, als sei nix gewesen.

Viertes Kapitel: Wachstumsspannen

„Wachstumsspannen […] betreffen die Entwicklung innerhalb der Lebenszeit. Um zwei Extremfälle zu nennen: Der Grönlandhai erlangt erst mit 150 Jahren die Geschlechtsreife, während der Axolotl lebenslang seine juvenile Form behält.“ (Seite 8 )

Wie schnell pflanzen sich unterschiedliche Tierarten fort? Was ist da die Besonderheit bei den Beutel- und Kloakentieren? Wieso wird der Axolotl nie erwachsen? Und wie schafft er es, sich abgetrennte Gliedmaßen einfach wieder neu wachsen zu lassen? Wie kann es sein, dass aus einem einzelnen Seestern-Arm wieder ein kompletter Seestern entsteht? Selbst bei Spinnen kann unter bestimmten Umständen ein abgetrenntes Bein nachwachsen.

Wie lange dauert es, bis die Nachkommen verschiedener Spezies buchstäblich auf eigenen Füßen stehen? Und warum brauchen die Menschenkinder dafür so unverhältnismäßig lang?

Fünftes Kapitel: Verhaltensbiologische Zeitspannen

„Verhaltensbiologische Zeitspannen gelten für die Art und Weise, in der Organismen auf ihre Umwelt reagieren. Zu beobachten sind lange Zeiträume, wie bei der Wanderung des Distelfalters, oder kürzere, wie die in Millisekunden zuschnappenden Fallen des fleischfressenden Wasserschlauchs“. (Seite 8 )

In diesem Kapitel erfahren wir beispielsweise, welche Tiere wie lange schlafen. Warum das so ist, steht da leider nicht. Aber wie es V ö g e l n gelingt, während des Fluges zu schlafen und warum Meeressäuger im Schlaf das Auftauchen nicht vergessen, das erklärt uns das Buch. Hier finden wir auch interessante Informationen über Tierwanderungen, Gruseliges über Parasiten („Zombifizierung“), entdecken Erhellendes über schnelle Reflexe und über verschiedene Strategien elterlicher Fürsorge. Das ist nicht immer appetitlich aber faszinierend. Genau wie der Beitrag über bizarre S*xpaktiken im Tierreich.

Sechstes Kapitel: Biologische Zeitspannen

„Biologische Zeitspannen […] hängen von physiologischen Prozessen wie dem Stoffwechsel oder der Hormonproduktion ab. [Die hier beschriebenen Intervalle zeichnen] die angeborenen Prozesse nach, durch die Organismen funktionieren und überleben.“ (Seite 8 )

Das letzte Kapitel befasst sich unter anderem mit S*xualzyklen … wer ist wann und wie oft fruchtbar? Welche Konsequenzen hat das für die Art und für das Ökosystem? Und warum gibt es bei manchen Tierarten eine Menopause? Die Frage ist berechtigt: „Wenn die Evolution Strategien fördert, die Organismen beim Weitergeben ihrer Gene helfen, warum sollte man dann Ressourcen an eine Phase verschwenden, in der kein Nachwuchs mehr produziert werden kann?“ (Seite 183)

Woher wissen Vögel, wann sie aufwachen müssen und Blumen, wann es Zeit ist, ihre Blüten zu öffnen oder zu schließen? Wie bewältigen Tiere ihre jährlichen Wanderungen? Wie genau funktioniert die biologische Uhr, die das alles regelt – und wo sitzt sie?

Ein bisschen abseitig ist vielleicht die Frage, warum Faultiere eigens zum K*cken den Baum verlassen, was sie ja sonst nie tun. Sie können die Exkremente doch einfach runterfallen lassen! Über Ausscheidungen lesen wir in diesem Kapitel noch mehr. Möglicherweise fühlt sich manch eine:r etwas überinformiert, aber auch diese Fragen haben ihre Berechtigung.

Auf Zahlen fokussiert und nicht immer gut lesbar

Die Präsentation ist schon sehr zahlenorientiert. Man kann bei der Fülle der angesprochenen Themen nicht immer in die Tiefe gehen und ausführliche Begründungen liefern. Aber um sich einen Überblick über einen Sachverhalt zu verschaffen, ist die Darstellung mit den Infographiken super.

Das Buch hat viel Spannendes und Faszinierendes zu erzählen, ist aber wieder eines dieser Sachbücher, das man als reiferer Interessent nur bei grellem Tageslicht lesen kann. Bei Kunstlicht bin zumindest ich außerstande, kleine, magere Schriften auf farbigem Untergrund zu entziffern. Winzige Ziffern in ein senfgelbes Feld auf lindgrünen Untergrund zu stellen (wie bei den Seitenzahlen), ist meines Erachtens keine gute Idee. Hübsch aber unlesbar.

Ärgerlich ist auch, dass manchmal Text fehlt wie z.B. auf den Seiten 152 und 155. Da verschwindet einfach ein Stück einer Textspalte und man erfährt nie, was uns die Autorin sagen wollte. Das ist schade. Warum macht man es Lesenden, die Buch und Wissen freiwillig erwerben möchten, unnötig schwer? Das habe ich noch nicht mal bei Schulbüchern eingesehen, die dem Rezipienten alternativlos aufgenötigt werden. Lernen sollte nicht mühselig sein, sondern Spaß machen. Der Spaß wird hier durch die Darstellung ein klein wenig gebremst.

Die Autorin

Dr. Helen Pilcher ist Wissenschaftsjournalistin und Moderatorin. Sie hat mehrere Bücher geschrieben und für verschiedene Zeitschriften wie Nature, The Guardian und New Scientist gearbeitet. Eines ihrer Bücher wurde 2020 von der Times zum Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt. Sie lebt in Großbritannien.
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