Leonie Schöler: Beklaute Frauen. Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen. Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte

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Vandam
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Leonie Schöler: Beklaute Frauen. Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen. Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte

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Leonie Schöler: Beklaute Frauen. Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen. Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte, München 2024, Penguin Verlag, ISBN 978-3-328-60323-8, Hardcover, 411 Seiten mit s/w-Abbildungen und Infokästen, Format: 14 x 3,8 x 22 cm, Buch: EUR 22,00 [D], EUR 22,70 [A], Kindle: EUR 19,99, auch als Hörbuch lieferbar.

„Begabt, benachteiligt, beklaut – wie Frauen aus der Geschichte gestrichen und um ihren Ruhm gebracht wurden. Warum die Chemikerin Clara Immerwahr trotz Doktortitel nur eine unbezahlte Assistenzstelle bekam, wieso die meistpublizierte Fotografin des Bauhauses keine Anerkennung erhielt und weshalb Lise Meitner keinen Nobelpreis hat.“ (Aus der Verlagswerbung)

Neu war mir nicht, dass Frauen zwar oft die (wissenschaftliche, politische oder künstlerische) Arbeit gemacht haben, aber Männer dafür Ruhm und Anerkennung erhielten. Dazu habe ich zu viel über Forschung gelesen und von jung auf den Schilderungen meines Vaters gelauscht, der gerne Biographien las und immer wieder fassungslos war: „XY war ja ein bedeutender Mann – aber wie er die MENSCHEN behandelt hat …!“ Und dann erzählte er Haarsträubendes über berühmte Herren und deren Umgang mit Angehörigen und Kolleg:innen. Von Albert Einstein war er besonders enttäuscht. Und Karl Marx, oh je! Ich bin also mit diesen Geschichten aufgewachsen.

„Alles ist, wie es ist, weil alles so war, wie es war.“ (Seite 15)

Gut, könnte man sagen, das sind alles olle Kamellen. Warum sollten wir uns heute noch damit beschäftigen? Weil’s fair wäre. Weil Geschichte uns die Gegenwart erklärt. Und weil es sowas immer noch gibt. Nur vielleicht ein kleines bisschen subtiler als vor hundert oder zweihundert Jahren. *

Ich kann mich jedes Mal aufs Neue aufregen, wenn ich lese, wie die Kollegen der Biochemikerin Rosalind Franklin heimlich in ihren Unterlagen herumschnüffelten, ihre Daten stahlen, sie als die eigenen ausgaben – und damit schließlich den Nobelpreis bekamen. Wie das ans Licht gekommen ist? Einer der Herren hat in seiner Autobiographie mit diesem Coup angegeben. Nicht ein Hauch von Unrechtsbewusstsein! – Hallo? In welcher Welt ist denn sowas in Ordnung?

Solche Geschichten gibt’s hier viele. Wissenschaftlerinnen, die nur heimlich durch den Hintereingang in ihr Labor schleichen durften, damit nur ja keiner sieht, dass hier eine Frau forscht. Frauen mit Doktortitel, die allenfalls als unbezahlte Assistentin arbeiten durften, bevorzugt für Ehemann oder Bruder. Was soll das? Wer hat solche absurden Regeln gemacht? Na ja: die, die das Sagen hatten und die, die was zu verlieren hatten.

Das ist kein Fehler im System

„Das ist […] kein Fehler im System, das IST das System. Unsere kapitalistische Gesellschaft basiert darauf, dass einige profitieren, während andere ausgebeutet werden. Die Ehe ist ein Fundament dieser Ausbeutung, denn sie stellt Frauen in den Dienst von Männern ohne sie dafür zu bezahlen. […] Männer sollen ihre wertvolle Zeit nicht mit wirtschaftlich unrentablen, störenden Aufgaben verschwenden, sondern vorankommen.“ (Seite 94)

Das klingt schon krass. Aber wenn man an die ganzen Gender-Gaps denkt (Gender-Time-Gap, Gender-Care-Cap, Gender-Pay-Gap und wie sie alle heißen), die dafür sorgen, dass Frauen häufiger in Teilzeit arbeiten, ihren Tag mit häuslichen Aufgaben füllen und insgesamt weniger verdienen, ist das nicht von der Hand zu weisen. Das hat sich so entwickelt, und da stecken wir immer noch drin.

Und so gut der Universalismus („Mensch ist Mensch“) in der Theorie klingt: Wir haben was anderes verinnerlicht.

Männlich, christlich, bürgerlich, hetero und weiß

„Als Blaupause des Menschen und des menschlichen Daseins wurde in der patriarchal geprägten Neuzeit gesellschaftlich fast immer der weiße, gut situierte cis-heterosexuelle Mann der westlichen Hemisphäre gesetzt.“ (Seite 255)

„Christlich“ nicht zu vergessen! Was von dieser Blaupause abweicht, wird misstrauisch beäugt, nicht ernst genommen, ausgegrenzt und/oder ignoriert. Da haben die „beklauten Frauen“ oft mehr als nur das „falsche“ Geschlecht als Handicap gehabt.

Es ist ja nachvollziehbar, dass sich eine bisher privilegierte Gruppe wehrt, wenn plötzlich Menschen in ihren Bereich vordringen wollen, die anders sind als sie selbst. Das erzeugt zunächst mal Abwehr: „Die sollen gefälligst draußen bleiben und uns keine Konkurrenz machen!“ Wenn sich die anderen trotzdem reindrängeln und mit ihrem Tun auch noch erfolgreich sind, wird das von den angestammten Gruppenmitgliedern als Bedrohung empfunden. Ob in Wissenschaft, Kunst, Politik oder Militär: Sobald die Frauen ankommen und auch ihr Stück vom Kuchen haben wollen, gibt’s Ärger.

„Wenn Frauen alles machen können und dürfen, was Männer machen können und dürfen, was macht einen Mann dann noch zum Mann? Ist eine geschlechtsabhängige Aufgaben- und Rollenverteilung etwa doch keine Vorgabe der Natur, sondern das Ergebnis einer patriarchalen Gesellschaft?“ (Seite 247)

Die anderen sollen draußen bleiben

Niemand sagt, dass alle Männer grundsätzlich so dachten und denken, aber die, die sich von den gesellschaftlichen Veränderungen bedroht oder auch nur gestört fühlten, haben den Frauen oft besonders deutlich gemacht, dass sie dem Mann nicht gleichgestellt waren. Wozu ist man schließlich in der Position, die Regeln zu machen? Und so werden Frauen und andere marginalisierte Gruppen ausgebremst, ausgenutzt, ausgegrenzt und deren Leistungen totgeschwiegen. Auf diese Weise kommt‘s zu den „unsichtbaren Heldinnen der Geschichte“, von denen im Buch-Untertitel die Rede ist.

Wie wir aus dieser Nummer wieder rauskommen? Das ist eine gute Frage! Eine Patentlösung hat die Autorin auch nicht. Es gibt nicht den einen Knopf, auf den man drücken muss, und – zack - kommt es nur noch auf die Fähigkeiten eines Individuums an und auf sonst nichts. Es ist mal ein Anfang, die unsichtbar gemachten Frauen in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken und ihnen wenigstens einen Teil der Anerkennung zukommen zu lassen, die ihnen zu Lebzeiten verwehrt wurde.

Aufschlussreich und unterhaltsam

Es kann auch nicht schaden, sich der Regeln bewusst zu sein, nach denen auch heute noch gespielt wird.

„Hinter jedem erfolgreichen Mann steht ein System, das ihn bestärkt; vor allen anderen steht ein System, das sie aufhält.“ (Seite 19)

Wenn man das rechtzeitig durchschaut, kann man vielleicht doch noch verhindern, dass einem jemand die Butter vom Brot nimmt.

Das Buch ist aufschlussreich und auf eine grimmige Weise unterhaltsam. Und hier wird nicht nur irgendwas behauptet: die Autorin hat ausgiebig recherchiert. Rund 80 Seiten mit Anmerkungen, Literatur- und Quellenverzeichnis sowie Literaturempfehlungen kommen nicht von ungefähr.

*Die historischen Betrachtungen in diesem Buch beschränken sich auf das Europa der letzten 200 Jahre. Das Thema räumlich und zeitlich in einem größeren Rahmen abzuhandeln, wäre in einem einzigen Band nicht zu schaffen. Dazu bedürfte es einer Buchserie.

Die Autorin

Leonie Schöler, geboren 1993, ist Historikerin, Journalistin und Moderatorin. Auf ihren beliebten TikTok- und Instagram-Kanälen (@heeyleonie) vermittelt sie spannendes Geschichtswissen und klärt ihre über 230.000 Follower*innen regelmäßig über die Vergangenheit und aktuelle politische Geschehnisse auf. Als Redakteurin und Filmemacherin mit Fokus auf Webvideos liefen ihre Recherchen bei diversen funk-Produktionen, unter anderem »Jäger und Sammler«, das »Y-Kollektiv« und »Auf Klo«.
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