Liane Lüthy: Kopflos

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Pandit
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Liane Lüthy: Kopflos

Beitrag von Pandit »

Der Roman besteht aus zwei Teilen. Im ersten Drittel wird in der dritten Person erzählt von Kindheit und Jugend und dem sie prägendem Umfeld einer Gertrud Elisabeth Pfister, die Trud genannt wird oder die sich selber so nennen lässt. Der zweite Teil enthält ihr Tagebuch als Ich-Erzählung.
Ob dieses Buch aber wirklich 1844 geschrieben worden ist? Ich habe erhebliche Zweifel. Ohne Fremdwörter-Duden verstehe ich viele altmodische Ausdrücke nicht. Dabei hat die Protagonistin Gertrud oder Trud nicht mal eine höhere Schulbildung genossen. Wohl eben deswegen bedient sie sich solch einer stellenweise veralteten Sprache, jedenfalls im ersten Teil. Später, als sie der Enge des Hofguts und damit aber auch dem Wohlwollen des Dienstherrn Scholl (oder Vormunds) entflieht, spricht sie normal, so als hätte sie Ballast abgeworfen.
Im ersten Teil, der in der dritten Person verfasst ist, schreibt sie so, wie es wahrscheinlich schon zu ihrer Zeit nicht mehr gebräuchlich gewesen sein wird. Wahrscheinlich um sich den Anschein einer gebildeten Dame zu geben, allerdings vergeblich. Dazu ist sie viel zu abergläubisch. Die Schilderung eines durch halluzinogene Pilze im „Efeu-Bier“ des Jägers zu Beginn der Geschichte ist ziemlich glaubwürdig und verrät, dass die Autorin bestimmt mindestens einmal bekifft gewesen sein muss.
Im Kopf der Trud herrscht ein ziemliches Durcheinander. Sie ist ein frommes Waisenkind, gut katholisch, wird jedoch von ihrem gelehrten Onkel, einem skeptischen ehemaligen Lehrer, erzogen und mit viel Vernünftigem und Wissenswerten vollgestopft. So entsteht in ihr ein Dilemma zwischen religiös-naivem Glauben und rückständigem Aberglauben auf der einen und einem aufgeklärten Denken auf der anderen Seite. Scholl, ähnlich wie früher in ihrer Kindheit dieser Onkel, sind von einem pädagogischen Eros beflügelt.
Die quälenden Zweifel in ihrem Kopf, an sich selbst und vor allem an ihrem Glauben, werden aber nur verstärkt. Ihr gutherziger Seelsorger unterzieht sie in der Hauskapelle einem Exorzismus, um ihr die vielen Teufel auszutreiben – mehrere werden namentlich identifiziert –, vor allem aber den Reiter ohne Kopf, eine Spukgestalt, die ihr immer wieder Angst einjagt.
Was für ein authentisches Tagebuch spricht, ist eine detailreiche und lebendige Schilderung der Wallfahrt zum Heiligen Rock in Trier, die sie auf eigene Faust antritt, völlig ungewöhnlich, denn allein reisende Frauen finden sich damals eigentlich mit wenigen Ausnahmen nur unter Aristokratinnen. Sie lügt das Blaue vom Himmel herunter, um allein reisen zu dürfen.
Die Reisebekanntschaft mit einem Juden, die sich zu einer Liebesbeziehung zu entwickeln beginnt, ist ebenso außergewöhnlich. Andererseits beruhen wiederum die irrwitzigsten Anekdoten und Schilderungen, die im Buch immer wieder eingestreut sind, auf nachprüfbaren Überlieferungen. Mit Geduld kann man einiges googeln und verifizieren. Recherchiert man intensiv, findet man in den abstrusesten Namen und Begebenheiten einen wahren Kern.
Das Buch ist kein Sachbuch. Ganz im Gegenteil. Und doch haben darin die unglaublichsten Erzählungen einen wahren Kern. Einige der unwahrscheinlichsten, die man dank digitaler Sammlungen im Netz überprüfen kann, ist die Predigt zur Hinrichtung einer jungen Kindsmörderin: Sie wird im Buch wörtlich zitiert.
Widersprüche erscheinen in einander verschränkt und dynamisch. Der Priester ist gläubig, aber dennoch auch wieder vernünftig. Scholl, der Herr des Eisernen Hofs, ist vernünftig, aber auch wieder abergläubisch. Trud ist zwar fromm, aber auch klug. Ihre inbrünstige Frömmigkeit verbindet sich durchaus mit einem scharfen Blick für den eigenen Vorteil und scheint nach und nach sowieso zu schwinden. So kauft sie bei der Wallfahrt Andenken und Rosenkränze, die sie am sogenannten Heiligen Rock „anrühren“ lässt, um sie später gewinnbringend zu verscherbeln. Auch auf dem Auswandererschiff weiß sie sich Vorteile zu verschaffen. Dann hört das Tagebuch unvermittelt auf. Vermutlich soll eine Fortsetzung des Romans folgen. Man wüsste doch zu gern, was die unternehmungslustige Trud in der neuen Welt so alles erlebt.
Eguzkia
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Registriert: Sa 12. Dez 2015, 23:01

Re: Liane Lüthy: Kopflos

Beitrag von Eguzkia »

Ach guck, dazu hatte ich doch auch mal eine Rezension geschrieben!
viewtopic.php?p=678273&hilit=l%C3%BCthy#p678273
Stimmt, der Schluss lässt irgendwie eine Fortsetzung erwarten ...
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