Milena Tebiri u.a.: Die Hungerwolke. Ein Kinderfachbuch über Essanfälle (ab 6 J.)

Stellen Sie ein Buch detailliert vor - mit Inhaltsangabe und Ihrem Urteil.
Antworten
Benutzeravatar
Vandam
Beiträge: 1603
Registriert: Do 22. Sep 2005, 15:40
Kontaktdaten:

Milena Tebiri u.a.: Die Hungerwolke. Ein Kinderfachbuch über Essanfälle (ab 6 J.)

Beitrag von Vandam »

Bild

Milena Tebiri, Anna-Charlotte Lörzer, Paula Kuitunen, Stefan Hetterich: Die Hungerwolke. Ein Kinderfachbuch über Essanfälle, ab 6 J., Frankfurt am Main 2022, Mabuse-Verlag, ISBN 978-3-86321-624-5, Hardcover, 71 Seiten mit farbigen Illustrationen von Anna-Charlotte Lörzer, Format: 21,4 x 1,3 x 30,3 cm, Buch: EUR 24,00.

„Iss, dann geht es dir besser! Bald wirst du nicht mehr so traurig sein, dass Papa schon wieder gegangen ist und es tut nicht mehr so weh, dass Mama und Lena dich nicht mögen“, raunt die Wolke. […] Die Wolke hat Recht. Für einen kurzen Moment fühlt sie sich wohler.“ (Aus dem Buch. Keine Seitenzahlen)

Ein Buch für Kinder und Erwachsene
SACHbücher für Kinder sind mir ein Begriff. Zu zahlreichen Themen gibt’s kindgerecht aufbereitete Informationen, zum Beispiel über Hunde, Katzen, Pferde, Bäume oder den Weltraum. Von der Sorte habe ich schon einige besprochen. Unter einem KinderFACHbuch konnte ich mir nichts vorstellen. Ein Kinderbuch richtet sich an Kinder, ein Fachbuch präsentiert einem erwachsenen Expert:innenpublikum wissenschaftliche Erkenntnisse. Wie passt das zusammen? Des Rätsels Lösung: Das Buch ist inhaltlich zweigeteilt.

Der erste Teil richtet sich ans junge Publikum und präsentiert das Fallbeispiel. Im zweiten Teil, dem Fachteil, geben Expertin Paula Kuitunen und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Stefan Hetterich grundlegende Infos zum Verständnis der Binge-Eating-Störung sowie hilfreiche Ratschläge. Ziel ist, betroffenen Kindern und Bezugspersonen zu helfen, regelmäßige Essattacken besser zu verstehen, darüber zu sprechen und mit der Essstörung umzugehen. Eine Liste mit Literaturempfehlungen und Internetlinks vervollständigt das Angebot.

Die kleine Mona hat Probleme
Die Geschichte: Die siebenjährige Mona hat Probleme. Seit ihr Vater die Familie verlassen hat, lebt sie mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Lena in einem kleinen Dorf. Sie scheint die Einzige in der Familie zu sein, die Papa vermisst und kann mit niemandem darüber reden. Freunde hat sie keine. In der Schule wird sie gemobbt, weil sie klein und mollig ist. Da ist sie wohl nach dem Vater geraten. Mutter und Schwester sind groß, schlank und blond und können Monas Probleme nicht nachvollziehen. Trost fände sie in der Musik, doch die ist leider mit Geräusch verbunden und ihre große Schwester rastet aus, sobald Mona ihre Geige auch nur anfasst. Kein Wunder, dass die Kleine denkt, niemand versteht sie, niemand mag sie, und alles, was sie macht, sei falsch.

Das Einzige, was ihr für kurze Zeit ein gutes Gefühl vermitteln kann, ist Essen. Obwohl sie keinen Hunger hat, stopft sie heimlich und hastig eine enorme Menge an Süßigkeiten in sich hinein. Das rät ihr die „Hungerwolke“. So personifiziert sie diesen Vorgang.

Essen als Trost
Solange sie isst, fühlt Mona sich sicher und wie in Watte gepackt. Aber danach ist ihr schlecht und sie schämt sich. Wenn sie ständig futtert, wird sie ja noch dicker werden und die Menschen werden sie noch weniger mögen als ohnehin schon. Doch sie kann dieses Verhalten nicht mehr stoppen. Sie braucht das heimliche Essen jetzt, das sie für kurze Zeit ihre Traurigkeit vergessen lässt.

Dass ihre Mutter dauernd davon redet, dass Mona dringend abnehmen müsse, macht dem Mädchen das Leben nicht leichter. Statt sich verstanden zu fühlen, fühlt Mona sich abgelehnt und ungeliebt. Ihre Familie ist aber auch weder aufmerksam noch mitfühlend!

Eine Lehrerin erkennt ihre Not
Eine erfahrene Lehrerin merkt schließlich, dass es Mona schlecht geht und begleitet sie nach Hause, um der Mutter zu erklären, was los ist. Mona muss nicht abnehmen, sie braucht eine andere Art der Hilfe.

Die Mutter ist erschüttert, weil sie die Not ihrer Jüngsten nicht gesehen hat und reagiert zum Glück nicht zickig, sondern greift die Vorschläge der Pädagogin dankbar auf.

Mona geht jetzt zu einer Therapeutin und lernt dort, dass sie sich für ihre Gefühle nicht schämen muss und dass sie nicht grundverkehrt, allein und ungeliebt ist. Und sie entdeckt, dass sie sich nicht überessen muss, wenn sie unglücklich ist, sondern dass es andere Dinge gibt, die sie tun kann, um sich besser zu fühlen. Schnell geht dieser Veränderungsprozess nicht, aber es geht voran.

Der Fachteil für Bezugspersonen
Der erste Teil ist der, den man mit den Kindern zusammen lesen soll. Daran anschließend folgt der „Fachteil für Bezugspersonen“, in dem Paula Kuitunen und Stefan Hetterich erklären,
  • Wie man die Binge-Eating-Störung (BED) erkennt,
  • Wie Betroffene einen Ess-Anfall erleben,
  • Wie häufig diese Essstörung auftritt,
  • Welche Probleme die BED begleiten können,
  • Woher die Störung kommt,
  • Wobei diese Ess-Anfälle vermeintlich „helfen“,
  • Wonach das betroffene Kind tatsächlich „hungert“,
  • Welche Therapien es gibt,
  • Was sonst noch hilft,
  • Was man als Bezugsperson tun kann.
  • Und es gibt weiterführende Literaturempfehlungen sowie Internetadressen.
Ich bin keine Expertin für Essstörungen, ich kann also nicht aus fachlicher Sicht beurteilen, wie hilfreich die Tipps und Erklärungen in diesem Buch sind. Ein bisschen kenne ich mich mit Suchterkrankungen aus, und was ich gelesen habe, erscheint mir seriös und plausibel. Die im Anhang aufgeführten Therapieformen und Techniken sind mir teilweise unbekannt. Da muss man sich im Ernstfall gut informieren, wenn man auf eine wissenschaftliche Grundlage Wert legt und nichts Esoterisches erwischen will.

Die BED ist behandelbar
Jetzt weiß ich auch, was mich an manchen dieser „Abnehm-Sendungen“ im (amerikanischen) Fernsehen immer gestört hat: Dort haben etliche Teilnehmer ähnliche Gefühle beschrieben wie Mona in dem Buch und sich mit Essen über ein unglückliches Leben oder über traumatische Erlebnisse hinweggetröstet. Da dachte ich oft, Mensch, hier ist es mit Gardinenpredigten, Kalorienzählen und Magenverkleinerung nicht getan. Diese Leute brauchen eine Therapie! Auch wenn nicht alle Betroffenen vollständig geheilt werden können, ist die BED doch behandelbar und eine Besserung durch eine therapeutische Behandlung wahrscheinlich. Das gibt Hoffnung.

Klüger und glücklicher
Ich bin mir nur nicht sicher, wie man praktisch mit diesem Buch umgeht. Solange das Kind noch so klein ist, dass man ihm die Geschichte vorlesen muss, ist alles im Lot. Aber sobald es selbst des Lesens mächtig ist …? Ich weiß, dass ich als Kind versucht hätte, mich auch durch den Erwachsenenteil zu arbeiten, was mich natürlich völlig überfordert hätte. Wird das Kind da nicht zusätzlich verunsichert? Oder wird nur eine vernachlässigbare Minderheit von einer derartigen Neugier geplagt? Auf jeden Fall ist DIE HUNGERWOLKE ein Buch, das kleine und große Leser:innen klüger und auf längere Sicht hoffentlich auch glücklicher macht.

Die Mitwirkenden
Milena Tebiri, geb. 1976 in Schweden, lebt heute mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Baselland und schreibt, so oft sie neben dem Bürojob dazu kommt. Ihre eigene Hungerwolke, die sie seit der Kindheit begleitet hat, ist mittlerweile weitergezogen.

Anna-Charlotte Lörzer, geb. 1990, ist Illustratorin, Geschichtensammlerin, Theaterpädagogin und Puppenspielerin. Das Kombinieren verschiedener Kunstformen und Disziplinen ist für sie ein Mittel, spielerisch durch die Welt zu gehen und diese aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und zu erforschen.

Paula Kuitunen, geb. 1983, leitet die Initiative mindcolors (www.mindcolors.de), die sich für die Rechte und Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen einsetzt. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Dresden.

Stefan Hetterich ist Diplom-Psychologe und tiefenpsychologischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in eigener Praxis. Der Beginn seiner psychologischen Tätigkeit war in einer Reha-Klinik für Kinder mit Adipositas. Er unterstützt Eltern auf www.therapie2go.com.
Antworten