Alexandra Zykunov: »Was wollt ihr denn noch alles?!«

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Vandam
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Alexandra Zykunov: »Was wollt ihr denn noch alles?!«

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Alexandra Zykunov: »Was wollt ihr denn noch alles?!« - Zahlen, Fakten und Absurditäten über unsere ach-so-tolle Gleichberechtigung, Berlin 2023, Ullstein Buchverlage GmbH, ISBN 978-3-548-06824-4, Hardcover, 304 Seiten, Format: 11,8 x 2,8 x 19,5 cm, Buch: EUR 15,99 (D), EUR 16,50 (A), Kindle: EUR 13,99, auch als Hörbuch lieferbar.

„Wenn ich sehe, dass da Fakten sind, Zahlen und Statistiken und sogar ganz konkrete Benefits, die dafürsprechen, eine Sache von X auf Y zu drehen, warum folgt man diesen Fakten und diesen Analysen dann nicht? Wenn es doch SOGAR dem Kapitalismus und auch unserem WOHLSTAND langfristig und nachhaltig konkret Geld in die Taschen spülen würde? Warum spülen Wirtschaft und Politik dieses Geld stattdessen lieber wissentlich ins Klo?“ (Seite 250)

Am liebsten würde die Autorin das Patriarchat anzünden. Aber nicht, weil sie Männer doof findet, sondern weil alte Zöpfe und absurde Regelungen dringend weg sollten. Dann würde es Frauen und Männern besser gehen … und allen anderen auch, egal, wie sie sich definieren.

Weiterwursteln wie gehabt

Wie aber soll sich etwas ändern, wenn immer dieselbe Sorte Entscheidungsträger – die viel geschmähten ‚alten weißen Männer‘ – unsere Geschicke leiten? Die machen natürlich das, was schon immer für sie funktioniert hat. Das ist menschlich und nicht mal böse Absicht. Sie kommen gar nicht auf die Idee, dass etwas für die weibliche Hälfte der Bevölkerung von Nachteil sein könnte – und dass genau diese Benachteiligung für Gesellschaft und Wirtschaft negative Folgen hat. Und wenn man’s ihnen schwarz auf weiß belegt, wollen sie es oft nicht glauben. Das ist, wie ich hier gelernt habe, der „Backfire-Effekt“. Den kennen wir alle, auch wir Frauen: Niemand will gern hören, dass das, was er/sie schon immer so gemacht hat, nicht gut und richtig war.

Wenn man sich lange genug mit dem Themenkreis Feminismus/Gleichberechtigung befasst hat, hat man von vielen Fakten, die Alexandra Zykunov in diesem Buch gut belegt anführt, schon gehört. Egal. Man kann’s nicht oft genug sagen. Und so deutlich, wütend und witzig, wie sie das macht, ist es auch noch unterhaltsam. Dieses Buch zu lesen ist, als würde man einer guten Freundin zuhören, die gerade etwas Ungeheuerliches erfahren hat und jetzt auf 180 ist und schäumt: „Leute, das ist das absolute Unding! Unfassbar! Haltet euch fest, ihr werdet’s nicht glauben!“

Der Thomas-Kreislauf und jede Menge „Gaps“

Wisst ihr, was ein „Thomas-Kreislauf“ ist? Das Phänomen war mir bekannt, der Ausdruck nicht: Menschen finden Menschen sympathisch, die so sind wie sie und stellen diese im Job dann auch ein. „Ein Thomas stellt einen Thomas ein, der einen Thomas einstellt, der einen Thomas einstellt“. (Seite 19) Ja, da haben Anne und Susanne natürlich wenig Chancen, dort hinzukommen, wo’s um Macht, Geld und Sichtbarkeit geht. Und das ist jetzt nicht bloß so ein Spruch. Unter den Oberbürgermeistern deutscher Großstädte gibt’s zum Beispiel mehr Thomasse als Frauen. Das soll jetzt kein Thomas-Bashing sein, sondern nur das Prinzip verdeutlichen.

Wir erfahren den wahren Grund, warum Frauen sich nicht auf Führungspositionen bewerben. Eigentlich ist es ein ganzes Bündel von Gründen. Dass Frauen sich einfach mehr (zu-)trauen müssen, ist dabei nicht der Punkt. Da gibt’s Zusammenhänge, gegen die selbst die beste Firma und die kompetenteste Personalabteilung nichts ausrichten kann. Das Problem fängt schon bei der Erziehung, in der Schule und in den Medien an und berührt Bereiche, die man zunächst gar nicht auf dem Schirm hatte.

Und was ist mit dem Gender-Pay-Gap, also damit, dass Frauen weniger verdienen als Männer? In Deutschland beträgt er 18,3%, heißt es. Alexandra Zykunov schaut genau hin und kommt noch auf ganz andere Zahlen. Und der Pay-Gap hat noch viele Kumpels. Den Gender Lifetime Earning Gap, zum Beispiel und noch ein halbes Dutzend andere. Da haut’s einen um, wenn man das liest. Dass es Personengruppen gibt, die diesbezüglich noch stärker benachteiligt sind als Frauen, ist kein Trost. Und das Gruselige ist: Wir haben uns an diese Ungleichheiten gewöhnt. Das ist alles sozial akzeptiert. In diesem Zusammenhang wird auch klar, was es mit schlecht bezahlten „typischen Frauenberufen“ auf sich hat.

Absurde Fakten, die niemand ändern mag

Ob Stadtplanung, medizinische Forschung und Versorgung – Frauen werden nicht „mitgedacht“ und haben dann die A***karte. Wobei’s im medizinischen Bereich auch handfeste Nachteile für Männer gibt. Man darf einfach nicht so einseitig und eingefahren denken. Das kann lebensgefährlich werden.

Die „absurden Elterngeldfacts“, die die Autorin aufzählt, haben mich überrascht. Mit diesem Thema musste ich mich nie beschäftigen. Und was, bitte, schützt eigentlich das Ehegattensplitting? Die Familie? Oder bloß das Konzept der Ehe? Und warum leistet man sich so ein überholtes System, das Frauen in Abhängigkeit und vom Arbeitsmarkt fern hält? Das könnte man schon längst abgeschafft haben, aber keine:r kriegt den Hintern hoch!

Sorge-Arbeit ist keine Arbeit? Ach was!

Kern vieler Probleme ist der Gender Care Gap, beziehungsweise die Tatsache, dass Care-Arbeit (Sorge-Arbeit: das Versorgen von Familie, Kindern, pflegebedürftigen Angehörigen) meist nicht bezahlt wird, von Frauen aus Liebe gemacht werden soll und auch nicht als Arbeit gilt. Natürlich ist das Arbeit, aber eben unbezahlte. Frauen geben ihre Zeit statt für ihr berufliches und privates Vorankommen, für ihre Freizeit oder für politisches Engagement für die Bedürfnisse anderer Menschen aus. Und haben dafür noch massive finanzielle Nachteile.

Die Autorin rechnet uns vor, wie viele Stunden Frauen wirklich arbeiten und wie viel das eigentlich kosten würde, wenn Care-Arbeit als reguläre Arbeit bezahlt werden würde. Und sie zeigt auf, was passieren würde, wenn die kostenlose Care-Arbeit nicht mehr geleistet werden würde – ein Horrorszenario! „Outsourcen“ kann ein Haushalt die Sorgearbeit auch schlecht: Fachkräftemangel in den Kitas, Pflegenotstand usw. Und warum? Weil Care-Arbeit nicht wertgeschätzt und schlecht bezahlt wird. Und wenn frau sich um alles selbst zuhause kümmern muss, bleibt sie dem Arbeitsmarkt fern und kann auch nichts zur Linderung/Behebung des Fachkräftemangels beitragen. Selbst wenn sie eine gesuchte Fachkraft ist. Wir haben halt eine [B]Care-Krise. [/B]

Die große Care-Krise

„Familienministerin Lisa Paus […] erklärte: Würde man alle Frauen mit Kindern unter sechs Jahren so viele Stunden im Job arbeiten lassen, wie sie gern würden, dann hätten wir […] mit einem Schlag 840.000 Arbeitskräfte mehr.“ (Seite 247) Geht aber nicht. Siehe oben: Die Care-Krise. Die müsste man erst in den Griff kriegen, also Geld in die Hand nehmen. Das würde sich rechnen, nicht nur für die Frauen. Für alle. Die Zahlen gibt’s. Und wenn man dann noch das unselige Ehegattensplitting kippen würde … Aber irgendwie zieht da keine:r so recht. Vielleicht machen den Entscheidungsträgern diese Veränderungen Angst. Wer weiß, was da auf längere Sicht alles passieren würde? Also bleibt es wie es ist, auch wenn es Sch**ße läuft.

Gibt’s Lösungsansätze? Vorschläge?

Wenn schon das große Umdenken ausbleibt, kann man dann vielleicht im Kleinen was ändern? Die Autorin ist kein Fan von Positivbeispielen, weil das den Eindruck erwecken könnte, die Probleme seien schon gelöst, obwohl wir noch weit davon entfernt sind. Aber so ganz ohne Hoffnung wollte sie uns wohl nicht ziehen lassen, und so zeigt sie doch, was sich andere Länder und einzelne Unternehmen haben einfallen lassen, um gegen all die Gaps/Lücken und Krisen anzugehen. Und siehe da, es funktioniert! Wir wollen also gar nichts Utopisches, sondern nur, dass die Ressourcen gerechter verteilt werden als es bislang der Fall war.

Natürlich bleibt noch viel zu tun. Eine Patentlösung hat Alexandra Zykunov auch nicht, aber ein paar Ideen, wo man sinnvollerweise ansetzen könnte, hat sie schon. Und das ganze geht nur, wenn wir miteinander daran arbeiten. Mit „gegeneinander“ kommen wir nicht weiter.

Es macht immer Spaß, sich gemeinsam mit jemandem über ein Thema aufzuregen. So auch hier. Und informativ und lehrreich war’s auch, selbst für so eine alte Häsin wie mich. Jetzt müsst’s nur noch fruchten …

Die Autorin

Alexandra Zykunov, geb. 1985, ist Journalistin für feministische und gesellschaftliche Themen bei der BRIGITTE und Autorin des Bestsellers "Wir sind doch alle längst gleichberechtigt!". Als Speakerin hält sie Keynotes in internationalen Unternehmen zu Themen wie Feminismus, Care-Arbeit oder Gender bias und ist als @alexandra___z eine reichweitenstarke Stimme auf Social Media. Ihre pointierten Texte und Analysen zur Unsichtbarkeit von Frauen- und Familienthemen in der Politik sprechen Tausenden von Frauen aus der Seele und gehen regelmäßig viral.

PS: Für das „Denglisch“ kann ich nichts, die Fachbegriffe zu diesem Thema sind alle auf Englisch, nicht nur in diesem Buch. Was ein Keynote-Speaker ist, habe ich auch erst googeln müssen: Ein Hauptredner auf Veranstaltungen.
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